Additive Fertigung verspricht die Zukunft der Produktion – flexibel, dezentral, digital vernetzt. Deutsche Unternehmen und Forschungsinstitute übersetzen diese Vision in große Fabrikhallen und nennen sie „Plattformen“. Das ist keine falsche, aber eine unvollständige Antwort. Zwischen der Materialität, die nicht aufgelöst werden kann, und der Obsoleszenz, die nicht ignoriert werden darf, muss Deutschland einen dritten Weg finden – und dafür seine gesamte Forschungsinfrastruktur radikal transformieren.
I. Die deutsche Übersetzung der Plattformökonomie
Additive Fertigung gilt als Inbegriff der industriellen Zukunft: individualisiert, flexibel, digital vernetzt. Große digitale Produktionsplattformen sollen die komplette Prozesskette des 3D-Drucks abbilden – von der Bestellung über die Produktion bis zur Qualitätssicherung. ThyssenKrupp arbeitet mit IBM daran[1]Digitale Plattform für den 3D-Druck, Fraunhofer-Institute forschen an digitalen Prozessführungen, BMW investiert in einen 6.000 Quadratmeter großen Campus für additive Fertigung[2]GER – BMW BAUT EINEN HIGH-TECH-CAMPUS AUS DEM BEREICH DER ADDITIVEN FERTIGUNG (3D DRUCKVERFAHREN) AUF. Das Versprechen: Bauteile mit komplexer Geometrie, produziert auf Abruf, dezentral gefertigt dort, wo sie benötigt werden.
Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich ein bemerkenswertes Muster. Die Vision einer „regionalen digitalen Plattform“ materialisiert sich in großen Fabrikhallen – 32.000 Quadratmeter in Florida, über 6.000 Quadratmeter bei BMW. Was hier als Plattform bezeichnet wird, folgt der Logik industrieller Massenproduktion: zentrale Produktionsstätten, kapitalintensive Infrastruktur, physische Konzentration von Fertigungskapazitäten.
Man könnte von einer deutschen Übersetzungsleistung sprechen: Plattformökonomie wird nicht als radikale Dezentralisierung verstanden, sondern als digitale Vernetzung bestehender Produktionsstrukturen. Die „Plattform“ ist hier nicht der offene Marktplatz, auf dem Angebot und Nachfrage algorithmisch vermittelt werden, sondern die automatisierte Auftragsabwicklung für industrielle Fertigungsstraßen. Blockchain und Industrial Data Space ersetzen nicht die zentrale Kontrolle, sondern ergänzen sie um digitale Protokollierung.
Diese Interpretation ist nicht falsch – sie ist konsequent. Deutsche Ingenieursexzellenz manifestiert sich in der Kontrolle über Qualitätssicherung, in reproduzierbar hohen Standards und geringen Ausschussraten. Die durchgängige Digitalisierung der Prozesskette dient nicht der Öffnung des Systems, sondern seiner Perfektionierung. Hybridplattformen kombinieren additive und subtraktive Verfahren, modulare Produktionsstraßen ermöglichen Skalierbarkeit – alles im kontrollierten Umfeld der Fabrikhalle.
Die zentrale Spannung liegt in der Begrifflichkeit selbst: „Regionale Plattform“ ist ein Oxymoron. Plattformen transzendieren regionale Grenzen, sie skalieren durch Netzwerkeffekte, nicht durch physische Expansion. Was hier entsteht, sind digitalisierte Produktionszentren – lokale Hubs, die KMUs Zugang zu moderner Fertigung verschaffen sollen. Ein legitimes Ziel, zweifellos. Aber die Frage bleibt: Wird hier Plattformökonomie adaptiert oder domestiziert?
II. Die Mikrofabrik: Semantik der Skalierung
Die Mikrofabrik ist der semantische Schlüssel zum Verständnis dieser Übersetzung. Im industriellen Diskurs wird die CEAD Flexbot-Plattform als „Mikrofabrik-Konzept“ beschrieben – auf 32.000 Quadratmetern. BMW investiert in 6.000 Quadratmeter „Campus“. Das ist ungefähr die Größe eines Fußballfeldes, respektive mehrerer.
Hier zeigt sich eine bemerkenswerte Relativierung: „Mikro“ meint nicht kleinteilig, mobil oder modular im Sinne urbaner Produktionseinheiten. „Mikro“ ist die Verkleinerungsform von „Großindustrie“. Es ist die Sprache des Skalierungsdenkens: Mikrofabriken sind nicht klein – sie sind nur kleiner als Volkswagen Wolfsburg.
Das eigentliche Konzept der Mini- oder Mikrofabrik, wie es etwa in der Diskussion um urbane Produktion oder distributed manufacturing erscheint, zielt auf etwas fundamental anderes: Container-basierte Produktionseinheiten, hochautomatisierte Zellen von 50-200 Quadratmetern, die in Gewerbegebieten, in Stadtnähe oder sogar in Logistikzentren platziert werden können. Produktion dort, wo Bedarf entsteht – nicht dort, wo man Flächen von Flugzeughallen finanzieren kann.
Die deutsche Version des Konzepts macht aus der radikalen Dezentralisierungsidee eine Frage der Betriebsgröße. Man bleibt in der Logik zentraler Produktionsstandorte, optimiert aber die Dimensionierung. Das ist nicht trivial – kleinere Einheiten können tatsächlich flexibler auf Nachfrage reagieren. Aber es bleibt Fabriklogik: hohe Fixkosten, Standortentscheidungen, regionale Einzugsgebiete.
Was fehlt? Die eigentliche Plattformdynamik. Echte Mini-Fabriken wären Knoten in einem Netzwerk – standardisierte Produktionsmodule, die über eine digitale Plattform koordiniert werden. Aufträge würden algorithmisch an die nächstgelegene, kapazitätsfreie Einheit geroutet. Qualitätssicherung durch Prozessstandardisierung, nicht durch zentrale Kontrolle. Das wäre Plattformlogik: Orchestrierung dezentraler Ressourcen statt Skalierung zentraler Strukturen.
III. Die Materialität der Produktion
Doch hier ist Vorsicht geboten. Die Kritik an der deutschen Plattforminterpretation darf nicht zu digitalen Auflösungsfantasien führen. Es gibt eine implizite Teleologie in der Plattformdiskussion: dass alles, was digitalisiert werden kann, auch digitalisiert werden sollte – und dass Digitalisierung Dezentralisierung bis zur vollständigen Atomisierung bedeutet. Der Container als Produktionseinheit, die App als Koordinationsinstrument, der Algorithmus als unsichtbare Hand. Produktion wird zum reinen Informationsfluss, Fertigung zur orchestrierten Dienstleistung.
Doch Produktion löst sich nicht in Bits und Bytes auf. Sie bleibt an Materie gebunden – an Energie, Rohstoffe, physikalische Prozesse, räumliche Anordnungen. Die additive Fertigung ist dafür ein präzises Beispiel. Ein 3D-Drucker mag flexibler sein als eine Spritzgussform, aber er benötigt dennoch: stabile Stromversorgung, klimatisierte Umgebung, qualifiziertes Personal, Materiallager, Nachbearbeitungskapazitäten, Qualitätsprüfung. Die Prozesskette ist physisch.
Die Standortfrage bleibt also real. Es gibt bessere und schlechtere Orte für Produktion – nicht nur nach Kostenkriterien, sondern nach funktionalen. Infrastruktur, Logistikanbindung, Verfügbarkeit von Fachkräften, energetische Rahmenbedingungen. Eine 32.000-Quadratmeter-Halle oder ein 6.000-Quadratmeter-Campus sind keine willkürlichen Größenordnungen. Sie reflektieren operative Notwendigkeiten: Lagerflächen für verschiedene Materialien, Raum für Nachbearbeitung und Qualitätskontrolle, Zonen für unterschiedliche Fertigungsverfahren, Logistikzonen.
Hier zeigt sich eine fundamentale Spannung zwischen Software-Denkweise und Ingenieursdenken. Software skaliert durch Reproduktion – der millionste Download kostet praktisch nichts. Produktion skaliert durch Standardisierung und Spezialisierung – aber jede physische Produktionseinheit behält ihre Kostenstruktur. Man kann einen Algorithmus beliebig oft kopieren. Man kann eine Fabrik nicht copy-pasten.
Die Plattformökonomie funktioniert dort brillant, wo Grenzkosten gegen Null tendieren: Software, Content, Vermittlung. Sie stößt an Grenzen, wo Physik nicht ignoriert werden kann. Uber orchestriert Autos, produziert sie aber nicht. Airbnb vermittelt Wohnraum, baut ihn aber nicht. Amazon betreibt Logistik, fertigt aber kaum selbst. Die Plattform organisiert das Physische – sie ersetzt es nicht.
Die „Selbstauflösung“ durch vollständige Digitalisierung wäre tatsächlich das Ende der Produktion. Was bliebe, wäre reine Vermittlung – und die Wertschöpfung läge dann bei dem, der tatsächlich produziert. Deutsche Unternehmen würden zu Subunternehmern chinesischer oder amerikanischer Plattformen. Die Weigerung, diesen Schritt zu gehen, ist keine Innovationsschwäche. Sie ist das Beharren auf eigener Wertschöpfung.
IV. Die Obsoleszenz der Gegenwart
Doch diese Verteidigung der Materialität darf nicht zum Alibi für das Beharren auf überkommenen Strukturen werden. Produktion bleibt materiell, physisch, standortgebunden – aber eben nicht in den Organisationsformen des 20. Jahrhunderts. Hier liegt der entscheidende Punkt: Die heutigen Fabriken und Produktionsmethoden sind obsolet.
Die heutigen Fabriken sind Relikte einer Ökonomie der Skaleneffekte. Ihre Logik: Fixkosten durch Masse amortisieren, Spezialisierung durch Volumen rechtfertigen, Effizienz durch Standardisierung erreichen. Das Ergebnis sind Großanlagen, die auf Auslastung optimiert sind – monofunktional, unflexibel, träge. Ein Werk, das Motoren baut, kann keine Getriebe produzieren. Eine Produktionslinie, die für Modell A ausgelegt ist, läuft leer, wenn Modell B gefragt ist.
Diese Struktur war rational in einer Welt stabiler Märkte, prognostizierbarer Nachfrage und langer Produktzyklen. Sie ist irrational in einer Welt volatiler Bedarfe, fragmentierter Märkte und beschleunigter Innovation. Die Fabrik als Kathedrale der Massenproduktion – konzipiert für Jahrzehnte, amortisiert über Millionen Einheiten – passt nicht mehr in eine Ökonomie, in der Produkte nach drei Jahren obsolet sind und Märkte über Nacht kollabieren können.
Additive Fertigung verspricht den Ausweg: Produktion ohne Werkzeugkosten, ohne Rüstzeiten, ohne Mindestmengen. Komplexität wird kostenneutral, Individualisierung wird möglich, Kleinserien werden wirtschaftlich. Das ist die technologische Revolution. Aber sie findet statt in Fabrikhallen, die nach der alten Logik gebaut sind: zentral, großflächig, hierarchisch organisiert.
BMW investiert 6.000 Quadratmeter – und schafft damit eine neue Großanlage für additive Fertigung. ThyssenKrupp und IBM bauen eine Plattform – und skalieren damit die industrielle Prozessführung. Das Problem ist nicht die Größe als solche. Das Problem ist die Denkweise: Man übersetzt neue Technologie in alte Strukturen.
Was wäre anders? Eine tatsächlich neue Produktionsarchitektur würde nicht von der Fabrik ausgehen, sondern vom Prozess. Nicht die Frage: Wie groß muss die Halle sein? Sondern: Welche Einheit kann rekonfiguriert werden? Nicht: Wo konzentrieren wir Kapazitäten? Sondern: Wie verteilen wir Fähigkeiten?
Das müsste nicht die Container-Utopie sein. Aber es könnte bedeuten: modulare Zellen statt integrierter Linien. Standardisierte Schnittstellen statt proprietärer Systeme. Softwaregesteuerte Rekonfiguration statt mechanischer Umrüstung. Produktion, die sich an Nachfrage anpasst, nicht Nachfrage, die sich an Kapazität anpassen muss.
Die Obsoleszenz zeigt sich auch organisatorisch. Die heutigen Fabriken trennen Planung und Ausführung, Konstruktion und Fertigung, Qualitätssicherung und Produktion. Hierarchien zwischen Ingenieuren und Technikern, zwischen Werk und Zentrale, zwischen Entwicklung und Produktion. Diese Trennung war funktional, als Wissen zentralisiert und Ausführung standardisiert werden musste. Sie ist dysfunktional, wenn digitale Durchgängigkeit Integration erfordert.
V. Die Konvergenz von Atom, Bit und Gen
Hier kommt Greg Satells These ins Spiel, die das deutsche Dilemma in einen größeren Kontext stellt[3]The Atom, The Bit And The Gene: Silicon Valley’s Innovator’s Dilemma: Die vergangenen Jahrzehnte, in denen digitale Innovation alles andere dominierte, waren eine historische Anomalie. Moore’s Law ermöglichte exponentielle Verbesserungen in einem isolierten Bereich – der Rechnerleistung. Software konnte in splendid isolation prosperieren, Nerds konnten „blissfully away coding“ echte Wertschöpfung generieren. Bits brauchten keine Atome.
Diese Ära endet. Nicht weil digitale Innovation ausläuft, sondern weil die niedrig hängenden Früchte gepflückt sind. Was bleibt, sind die harten Probleme: Materialwissenschaft, synthetische Biologie, Quantencomputing. Innovation wird wieder, was sie historisch immer war: Kombination verschiedener Domänen. Das Silicon Valley steht vor seinem Innovator’s Dilemma – seine Kernkompetenz, die reine Softwareentwicklung, reicht nicht mehr.
Für Deutschland ist das eine faszinierende Wendung. Jahrelang wurde beklagt, dass deutsche Unternehmen „Digitalisierung nicht verstehen“, dass sie zu sehr am Physischen hängen, zu sehr an Materialität und Ingenieursdenken. Die Klage war nicht falsch – aber vielleicht war sie voreilig. Denn nun, da Innovation wieder die Verbindung von Bits und Atomen erfordert, liegt Deutschlands Kernkompetenz plötzlich wieder im Zentrum.
Additive Fertigung ist das perfekte Beispiel für diese Konvergenz. Die Technologie ist digital – CAD-Modelle, algorithmische Prozesssteuerung, Echtzeit-Qualitätskontrolle durch Sensordaten. Aber das Ergebnis ist radikal physisch: Metall, Kunststoff, Keramik. Komplexe Geometrien, die nur digital entworfen werden können, aber nur physisch funktionieren. Bits informieren Atome – aber Atome bleiben die Substanz.
Die deutsche Herausforderung ist also nicht, Plattformen zu bauen wie Google oder Facebook. Das wäre das Kämpfen des letzten Krieges. Die Herausforderung ist, die Kombination von Bit und Atom zu beherrschen – und zwar in einer Form, die tatsächlich die Obsoleszenz heutiger Fabriken überwindet.
Was heißt das konkret? Die 32.000-Quadratmeter-Halle ist obsolet, wenn sie nach der Logik des 20. Jahrhunderts organisiert ist: physische Masse mit digitaler Steuerung verkleidet. Sie wäre innovativ, wenn sie eine neue Produktionsarchitektur verkörpert: modulare Zellen, die softwaregesteuert rekonfiguriert werden können. Digitale Zwillinge, die nicht nur Prozesse abbilden, sondern physische Anordnungen optimieren. Materialwissenschaft, die durch KI-gestützte Simulation neue Legierungen entwickelt, die dann in adaptiven Fertigungssystemen verarbeitet werden.
Das ist keine reine Bit-Innovation – das kann kein Softwareunternehmen allein. Das ist auch keine reine Atom-Innovation – das kann keine traditionelle Fabrik. Das ist die Kombination: Computational Materials Science trifft auf adaptive Produktion. Algorithmen informieren Prozesse, die Materie formen.
Deutschland hat Stärken in beiden Bereichen. Weltklasse-Materialwissenschaft, exzellente Fertigungstechnik, hohe Ingenieursexpertise (Atome). Gleichzeitig starke Softwareingenieure, führende Forschung in maschinellem Lernen, gute Informatik-Tradition (Bits). Was fehlt, ist die systematische Kombination.
VI. Die Fraunhofer-Falle
Und genau hier liegt das strukturelle Problem: Die institutionelle Stärke Deutschlands – Forschungseinrichtungen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft – könnte sich als strukturelles Hindernis erweisen. Die Fraunhofer-Gesellschaft, oft als Vorzeigemodell deutscher Innovationsfähigkeit präsentiert, ist selbst ein Relikt obsoleter Strukturen.
Die Gesellschaft umfasst 76 Institute, gruppiert in thematische Allianzen: Produktion, Mikroelektronik, IKT, Life Sciences, Materialien. Jedes Institut hat seine Spezialisierung, seine Expertise, seine etablierten Industriekontakte. Fraunhofer IAPT für additive Fertigung. Fraunhofer IPA für Produktionstechnik und Automatisierung. Fraunhofer IAIS für Künstliche Intelligenz. Fraunhofer ISI für Innovationsforschung.
Die Struktur reflektiert disziplinäre Grenzen des 20. Jahrhunderts. Sie ist optimiert für inkrementelle Verbesserung innerhalb etablierter Felder, nicht für deren Kombination. Wenn ThyssenKrupp eine Plattform für additive Fertigung entwickeln will, bekommt es Expertise von IAPT – Fertigungstechnologie. Wenn es KI-gestützte Prozessoptimierung braucht, muss es zusätzlich IAIS beauftragen – künstliche Intelligenz. Wenn es neue Materialien entwickeln will, kommt IFAM hinzu – Werkstofftechnik.
Das Ergebnis ist keine Integration, sondern Kooperation zwischen Silos. Drei Projektteams, drei Budgets, drei Lieferungen. Am Ende muss das Unternehmen selbst integrieren – also genau die Arbeit leisten, für die es eigentlich keine Kompetenz hat. Die interdisziplinäre Leistung, die entscheidend wäre, wird ausgelagert an den, der am wenigsten dafür ausgestattet ist: den Auftraggeber.
Die Struktur hat historische Gründe. Fraunhofer entstand in einer Zeit, als Wissenschaft in Disziplinen organisiert war und Technologietransfer bedeutete: Wissen aus der Universität in die Industrie zu überführen. Das Institut als Brücke zwischen zwei klar getrennten Sphären. Diese Trennung ist obsolet, wenn Innovation die Kombination verschiedener Domänen erfordert.
Aber die Obsoleszenz ist auch ökonomisch bedingt. Fraunhofer finanziert sich zu etwa 70% aus Drittmitteln – Industrieaufträgen und öffentlicher Projektförderung. Das schafft einen strukturellen Konservatismus: Institute leben von etablierter Expertise, die sie vermarkten können. Radikale Neuausrichtung gefährdet bestehende Einnahmequellen. Ein Institut für Produktionstechnik, das beginnt, sich systematisch mit synthetischer Biologie zu beschäftigen, riskiert seinen Kundenstamm in der Automobilindustrie.
Die Projektlogik verschärft das Problem. Forschung wird in 2-3-Jahres-Zyklen gedacht, finanziert über spezifische Ausschreibungen mit definierten Zielen. Echte interdisziplinäre Integration braucht aber längere Zeiträume – nicht um ein definiertes Problem zu lösen, sondern um überhaupt die gemeinsame Sprache zu entwickeln. Ein Materialwissenschaftler und ein Machine-Learning-Experte müssen erst lernen, was die Fragen des anderen bedeuten, bevor sie gemeinsam Innovation schaffen können.
Auch die Karrierestrukturen wirken gegen Integration. Fraunhofer-Mitarbeiter kommen aus universitären Ausbildungen, die hochspezialisiert sind. Ihre wissenschaftliche Reputation hängt an Publikationen in Fachzeitschriften, die wiederum disziplinär organisiert sind. Ein echter Durchbruch in der Kombination von additiver Fertigung und KI-gesteuerter Materialoptimierung – wo wird der publiziert? Zu anwendungsnah für Nature Materials, zu grundlagenorientiert für Production Engineering, zu technisch für AI-Journals. Die akademische Währung belohnt Spezialisierung, nicht Kombination.
Was wäre die Alternative? Nicht 76 spezialisierte Institute, sondern Problemfelder als Organisationsprinzip. Nicht „Institut für additive Fertigung“, sondern „Institut für adaptive Produktion“ – mit Materialwissenschaftlern, Fertigungsingenieuren, Softwareentwicklern, Datenanalysten in permanenter Zusammenarbeit. Nicht Projektkooperation zwischen Instituten, sondern integrierte Teams, die dauerhaft an der Schnittstelle arbeiten.
Das hieße: kleinere Einheiten, flexiblere Strukturen, längere Finanzierungshorizonte, andere Bewertungskriterien. Erfolg nicht an der Zahl der Industrieprojekte messen, sondern an echten Durchbrüchen. Publikationen nicht nach Impact-Factor bewerten, sondern nach Integrationskraft. Karrieren nicht über Spezialisierung definieren, sondern über die Fähigkeit, zwischen Domänen zu vermitteln.
Das klingt radikal – und es ist radikal. Es bedeutet, Fraunhofer grundlegend umzubauen. Von einer föderierten Struktur spezialisierter Institute zu einer integrierten Organisation problemorientierter Forschung. Von Drittmittel-Abhängigkeit zu Grundfinanzierung, die Risikobereitschaft ermöglicht. Von disziplinärer Exzellenz zu interdisziplinärer Innovation.
VII. Zwischen Materialität und Transformation
Deutschland steht vor einer dreifachen Herausforderung, die in ihrer Komplexität kaum zu überschätzen ist:
Erstens muss es die Materialität der Produktion verteidigen – gegen digitale Auflösungsfantasien, die Wertschöpfung in reine Vermittlung verwandeln würden. Die Fabrikhalle verschwindet nicht, weil Physik nicht verschwindet. Standortgebundene Produktion bleibt real, notwendig, wertvoll.
Zweitens muss es die Obsoleszenz heutiger Produktionsformen überwinden – die Großanlagen des 20. Jahrhunderts, optimiert auf Masse und Auslastung, unfähig zur Rekonfiguration. Neue Technologie in alte Strukturen zu implementieren, ist keine Innovation, sondern Modernisierung von Überkommenen.
Drittens muss es die institutionellen Voraussetzungen für die Kombination von Atom, Bit und Gen schaffen – und dafür seine gesamte Forschungsinfrastruktur radikal transformieren. Fraunhofer in seiner heutigen Form ist Teil des Problems, nicht der Lösung.
Die Chancen dafür stehen nicht gut. Institutionen ändern sich nicht freiwillig. Fraunhofer ist erfolgreich nach den Metriken des 20. Jahrhunderts, deutsche Unternehmen sind profitabel mit ihren bestehenden Strukturen, die Politik feiert jede neue „Plattform“-Initiative als Durchbruch. Der Leidensdruck ist nicht groß genug – noch nicht.
Aber vielleicht liegt darin auch eine Chance. Silicon Valleys Dilemma ist, dass es keine physische Forschungsinfrastruktur hat und die Materialität der Produktion nicht beherrscht. Deutschlands Dilemma ist, dass seine Forschungsinfrastruktur selbst obsolet ist und die Kombination verschiedener Domänen verhindert. Der Vorteil liegt bei dem, der zuerst neue Organisationsformen findet – nicht nur für Produktion, sondern auch für Forschung.
Die 32.000-Quadratmeter-Halle ist nicht per se falsch. Sie ist falsch, wenn sie eine alte Fabrik mit Sensoren ist. Sie ist richtig, wenn sie eine neue Produktionsarchitektur verkörpert – physisch notwendig, digital organisiert, funktional neu. Deutschland muss nicht aufhören, Fabriken zu bauen. Es muss aufhören, Fabriken des 20. Jahrhunderts mit Technologie des 21. Jahrhunderts auszustatten.
Die Materialität der Produktion ist keine Bürde. Sie ist der Gegenstand der Innovation. Wer sie aufgibt zugunsten reiner Plattformlogik, gibt Wertschöpfung auf. Wer sie bewahrt in obsoleten Strukturen, verpasst die Innovation. Wer sie transformiert durch die Kombination von Atom und Bit, schafft echten Wert.
Deutschland könnte diesen Weg gehen. Es hat die materiellen Voraussetzungen, die technologische Expertise, die institutionelle Basis. Was fehlt, ist die Bereitschaft zur radikalen Transformation – nicht der Technologie, sondern der Strukturen, in denen Technologie entsteht und angewendet wird. Die Frage ist nicht, ob neue Produktionsarchitekturen möglich sind. Die Frage ist, ob Deutschland bereit ist, dafür seine erfolgreichsten Institutionen in Frage zu stellen.
Die Antwort wird darüber entscheiden, ob die deutsche Industrie das 21. Jahrhundert prägt – oder ob sie darin zum Museumsstück wird, bewahrt in 32.000-Quadratmeter-Hallen, die einmal Zukunft waren.
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