Echte Startup-Ökosysteme entstehen spontan, sozial verdichtet, atmosphärisch aufgeladen. Ein Essay über den Unterschied zwischen gebauter Kulisse und gelebter Kultur – und warum Innovation sich nicht planen lässt.


Es gibt Städte, die Innovation anziehen wie Magneten. Orte, an denen sich Gründer, Kreative und Investoren wie von selbst sammeln, wo in Cafés Geschäftsideen entstehen und in Hinterhöfen die nächste Technologie-Generation heranwächst. Berlin gehört dazu, Boulder in Colorado, Kitchener-Waterloo in Kanada. Was diese Orte verbindet, ist nicht Größe, Budget oder Infrastruktur – sondern etwas Subtileres, schwer Greifbares: eine Atmosphäre, die Innovation möglich macht. Die Frage ist: Lässt sich diese Atmosphäre auch künstlich erzeugen?

Das implizite Wissen der Orte

Innovation lässt sich nicht einfach von einem Ort zum anderen verpflanzen. Robert K. von Weizsäcker und Martin Steininger haben am Beispiel der Technischen Universität München gezeigt, dass räumlich begrenzte Wachstumsimpulse das Ergebnis einer strategischen Akkumulation regionalen Humankapitals sind. Es existiert ein standortgebundenes, implizites Wissen – eine Art kollektives Gedächtnis, das in den Köpfen, Gewohnheiten und Netzwerken der Menschen vor Ort gespeichert ist. Dieses Wissen ist nicht ohne weiteres übertragbar, nicht imitierbar. Es ist der unsichtbare Klebstoff, der ein Ökosystem zusammenhält.

Von Weizsäcker und Steininger sprechen von der „Eigentorthese des Wissens“. Innovation hat eine Adresse, eine Geschichte, eine Herkunft. Der Haken: Dieses Wissen erhöht die Pfadabhängigkeit einer Region. Was einmal gewachsen ist, prägt die Zukunft. Was nie gewachsen ist, lässt sich schwer künstlich erzeugen.

Agglomeration: Warum Dichte zählt

Die Stadtökonomie kennt seit langem das Phänomen der Agglomerationseffekte. Sie erklären, warum sich Menschen und Unternehmen an bestimmten Orten konzentrieren – dort, wo natürliche Kosteneinsparungen möglich sind, wo Wissen fließt, wo Zufall und Gelegenheit aufeinandertreffen. Silicon Valley für Technologie, Los Angeles für Unterhaltung, London für Finanzen: Diese Zentren sind nicht durch zentrale Planung entstanden, sondern durch spontane, sich selbst verstärkende Prozesse.

Kristoffer Möller hat in seiner Untersuchung zu Berliner Internet-Startups gezeigt, dass vor allem endogene Faktoren – kulturelle Angebote, Cafés, Bars, urbane Annehmlichkeiten – die Attraktivität großer Städte ausmachen. Startups siedeln sich nicht irgendwo an, sondern an Knotenpunkten mit exzellenter Verkehrsanbindung und hoher sozialer Dichte. Diese Knotenpunkte haben sich spontan gebildet. Moderne Stadtplanung erweist sich als nahezu wirkungslos, wenn sie versucht, solche Zentren künstlich zu schaffen. Technologieparks an der Peripherie bleiben oft leere Hüllen.

Die Boulder-These: Leader statt Infrastruktur

Brad Feld hat mit seinem Buch Startup Communities eine zentrale Erkenntnis formuliert: Entscheidend für ein florierendes Startup-Ökosystem sind nicht Universitäten, Investoren oder Wirtschaftsförderung – sondern Menschen. Leader, die selbst Unternehmer sind oder waren, die mit gutem Beispiel vorangehen, die sich aktiv an Aufbau und Pflege der Community beteiligen, ohne direkten persönlichen Vorteil.

Am Beispiel von Boulder, einer Kleinstadt in Colorado mit einem der dichtesten Startup-Ökosysteme der USA, belegt Feld seine These. Was Boulder auszeichnet, ist nicht die Größe, nicht das Budget, nicht die Infrastruktur – sondern ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, Hilfsbereitschaft, Mentoren und erfolgreiche Gründer, die vor Ort bleiben. Feld betont die Bedeutung der langfristigen Perspektive: zwanzig Jahre und mehr. Ohne kontinuierliche, informelle, spontane Aktivitäten verödet ein Ökosystem, sobald die erste Generation von Startups verschwunden ist.

Auch Kitchener-Waterloo in Kanada, dokumentiert im Film Startup Community, zeigt dieses Muster. Die kritische Masse wurde nicht durch einen Masterplan erreicht, sondern durch soziale Dichte, offene Wissensflüsse und eine lebendige lokale Ökonomie.

Silicon Valley und Route 128: Ein aufschlussreicher Vergleich

Annalee Saxenian hat in ihrem Buch Regional Advantage einen der aufschlussreichsten Vergleiche der Innovationsforschung vorgelegt. Sie untersucht, warum sich das Silicon Valley zur weltweit führenden Technologieregion entwickelte, während die Route 128 bei Boston – zunächst überlegen – zurückfiel. Der Unterschied lag nicht in Ressourcen oder Infrastruktur, sondern in der Kultur.

An der Route 128 spielte sich das Wirtschaftsleben in geordneten Bahnen ab. Die Reviere waren klar abgesteckt, spontane Begegnungen zwischen Unternehmensführern, Wissenschaftlern, Investoren und Politikern waren selten. Lose Netzwerke für den zwanglosen Informationsaustausch konnten sich in diesem Umfeld kaum entwickeln. Ganz anders im Silicon Valley, das von Anfang an eine lockere Atmosphäre pflegte, die von Kooperation geprägt war.

Saxenian stellt fest, dass es nicht ausreicht, Institutionen isoliert zu betrachten. Im Silicon Valley spielen dichte Netze sozialer Beziehungen eine entscheidende Rolle bei der Integration der Unternehmen. Selbst scheinbar gleichartige Institutionen können in verschiedenen Systemen unterschiedliche Rollen spielen. Die Stanford University etwa förderte aktiv lokale Technologiegründungen und ist viel stärker in ihr regionales Umfeld integriert als das MIT. Institutionen sind nur so wirksam wie ihr Einbettungsgrad in eine lebendige lokale Ökonomie. Erfolgreiche Innovationsregionen entstehen nicht durch Großinvestoren, sondern durch spontane Netzwerke und offene Wissensflüsse.

Die Grenzen der Planung

Was bedeutet das für Regionen, die Innovation fördern wollen? Die Versuchung ist groß, auf Infrastruktur zu setzen: Gründerzentren bauen, Förderprogramme auflegen, Universitäten ausbauen. All das ist nicht falsch – aber es reicht nicht. Denn Innovation entsteht nicht in Gebäuden, sondern zwischen Menschen. Sie braucht Räume, aber keine Kontrolle. Sie braucht Ermöglichung, keine Steuerung.

In der Philosophie von Hermann Schmitz lässt sich dieser Unterschied als Gegensatz zwischen „engen“ und „weiten“ Atmosphären beschreiben. Eine enge Atmosphäre ist kontrolliert, effizient, vorhersehbar – sie lässt wenig Spielraum für Überraschung, Irritation, Leidenschaft. Eine weite Atmosphäre hingegen ist offen, resonanzfähig, unvorhersehbar. Sie ermöglicht das, was Innovation eigentlich antreibt: den produktiven Zufall, die unerwartete Begegnung, das Experiment.

Wer Innovation institutionell plant, erzeugt bestenfalls Routine. Wer sie zu stark strukturiert, verhindert sie. Die erfolgreichen Startup-Ökosysteme dieser Welt sind nicht Ergebnis perfekter Planung, sondern glücklicher Umstände, die durch engagierte Menschen kultiviert wurden. Sie sind organisch gewachsen, nicht konstruiert.

Fazit: Innovation braucht Luft zum Atmen

Die Lehre aus Boulder, Berlin, Kitchener und Silicon Valley ist eindeutig: Innovation entsteht nicht auf Reißbrettern, sondern in den Zwischenräumen – in Gesprächen, Zufallsbegegnungen, improvisierten Kooperationen. Sie braucht Menschen, die bleiben und sich kümmern. Sie braucht Dichte, aber keine Kontrolle. Sie braucht Atmosphäre, keine Architektur.

Das bedeutet nicht, dass Förderung sinnlos wäre. Im Gegenteil: Kluge Wirtschaftspolitik schafft Rahmenbedingungen, beseitigt Hindernisse, ermöglicht Experimente. Aber sie sollte sich zurückhalten, wo es um das Herzstück geht – die sozialen Netzwerke, das implizite Wissen, die spontanen Begegnungen. Diese lassen sich nicht verordnen, nur kultivieren.

Innovation braucht Geduld. Sie braucht Menschen, die langfristig denken. Und sie braucht die Bereitschaft, Kontrolle abzugeben und das Unplanbare zuzulassen. Das ist vielleicht die größte Herausforderung von allen – und zugleich die wichtigste Voraussetzung für echte, nachhaltige Innovation.


Quellen:

Startup Community – Dokumentationsfilm über die Startups in Kitchener-Waterloo (Ontario/Kanada)

Culturally clustered or in the cloud? Location of internet start-ups in Berlin (Kristoffer Möller)

Innovative Milieus, distanzabhängige Spillover-Effekte und die Eigentorthese des Wissens

„Startup Communities. Building An Entrepreneurial Ecosystem In Your City“ von Brad Feld

Regional Advantage

Economies of agglomeration