Ein SPIEGEL-Artikel von 1992 zeichnete ein düsteres Szenario: Europa werde zur „technologischen Kolonie Japans“, sollte man die strategische Bedeutung von Mikrochips weiter ignorieren. Drei Jahrzehnte später lesen sich die Warnungen von damals wie eine Blaupause für die heutigen Chip-Kriege – nur dass der Gegner heute China heißt statt Japan. Doch während Europa damals aus einer Position der industriellen Stärke heraus warnte, droht heute der Absturz auf ganzer Linie.
Der Titel klang wie Science-Fiction: „Im Jahr 2000 sehen wir uns wieder“[1]»Im Jahr 2000 sehen wir uns wieder«. Doch was der SPIEGEL 1992 zusammentrug, war keine Zukunftsvision, sondern ein Alarmruf. Industrievertreter, Politiker und Experten malten ein Schreckensszenario an die Wand, das heute – mit verblüffender Präzision – wiederzuerkennen ist: Europa drohe die Kontrolle über seine technologische Zukunft zu verlieren. Der Grund? Mikrochips. Die Bedrohung? Japan.
Die neue Währung der Macht
Schon Anfang der 1990er Jahre war klar: Chips würden das werden, was Öl für das 20. Jahrhundert war – das „wichtigste Wirtschaftsgut“ der kommenden Dekaden. Ohne sie kein Wohlstand, keine technologische Souveränität, keine industrielle Zukunft. Europa, so die einhellige Diagnose, verschlief diese Revolution. Während Japan mit strategischer Präzision seine Halbleiterindustrie aufbaute, dümpelte der Kontinent in Selbstzufriedenheit vor sich hin.
Die Abhängigkeit war bereits totalitär: Reinstsilizium, Fertigungsapparaturen, Know-how – nahezu alles kam aus Asien oder den USA. Deutschland und seine europäischen Partner hatten sich in eine gefährliche Abhängigkeit manövriert. Der befürchtete Domino-Effekt war simpel und brutal: Verliert man eine Industriebranche, bereitet das den Verlust der nächsten vor. Ein japanisches Chip-Embargo, so die damalige Horrorvision, könnte ganze Wirtschaftszweige lahmlegen.
Warnung aus der Position der Stärke
Dabei war die Ausgangslage damals fundamental anders als heute. Deutschland und Europa waren in den frühen 1990er Jahren auf vielen Feldern noch Weltspitze. Der Automobilbau war eine unerschütterliche Säule deutscher Ingenieurkunst, der Maschinenbau exportierte Präzision in alle Welt, die Chemieindustrie dominierte globale Märkte, der Anlagenbau galt als Referenz. Die Sorge um die Mikroelektronik war die Sorge eines ansonsten prosperierenden Industriekontinents, der einen blinden Fleck in seinem Portfolio entdeckt hatte – ein strategisches Problem, gewiss, aber eines, das aus einer Position umfassender industrieller Stärke heraus formuliert wurde.
Die Warnung von 1992 lautete im Kern: Wenn wir bei Chips den Anschluss verlieren, gefährden wir langfristig unsere gesamte industrielle Basis. Es war eine Prophezeiung, eine Wenn-dann-Warnung. Europa hatte noch Zeit zu reagieren, noch Ressourcen und industrielle Potenz, um gegenzusteuern.
Kultureller Blindflug
Die Ursachen für Europas Schwäche bei Chips waren vielschichtig. Es fehlte nicht nur an Geld – obwohl die Investitionslücke gewaltig war. Gravierender noch war die strategische Blindheit. Während in Japan der technologische Fortschritt als Kampf um nationale Überlegenheit verstanden wurde, behandelten europäische Regierungen Innovation als nette Beigabe. Staatliche Mittel flossen in Agrarsubventionen und sterbende Industrien, nicht in Zukunftstechnologien.
Die europäische Elektronikindustrie litt zudem unter zersplitterter Organisation, fehlender Kooperation und „alternden Primadonnen“ in Führungsetagen, wie der Artikel es formulierte. Was Europa gebraucht hätte – entschlossene Fusionen, gemeinsame Standards, strategische Allianzen –, blieb aus. Die Einsicht, dass Chips nicht irgendein Produkt sind, sondern die Grundlage künftiger Macht, setzte sich nur mühsam durch.
Der eingetretene Albtraum
Drei Jahrzehnte später zeigt sich: Die Warnung war berechtigt, aber sie kam zu früh – oder wurde zu spät ernst genommen. Der damals befürchtete Domino-Effekt hat sich materialisiert, allerdings dramatischer als prognostiziert. Die deutsche Automobilindustrie, einst Aushängeschild deutscher Ingenieurskunst, kämpft ums Überleben. Die Transformation zur Elektromobilität wurde verschlafen, die Software-Kompetenz fehlt, und ja: die kritische Abhängigkeit von asiatischen Chip-Zulieferern ist zur Achillesferse geworden. Der Maschinenbau verliert Marktanteile an chinesische Konkurrenten. Die Chemieindustrie leidet unter hohen Energiekosten und schwindender Wettbewerbsfähigkeit. Der Anlagenbau sieht sich mit einer veränderten globalen Nachfrage konfrontiert.
Was 1992 als isoliertes Problem der Mikroelektronik erschien, hat sich als Vorbote eines umfassenderen Niedergangs erwiesen. Europa warnte damals vor technologischer Kolonisierung in einem Segment – heute steht der Kontinent vor der Gefahr eines industriellen Totalverlusts. Die Ausgangslage ist nicht mehr die Position der Stärke mit einem strategischen Defizit, sondern eine Position allgemeiner Schwäche mit multiplen strukturellen Krisen.
Nexperia: Das Embargo-Szenario wird real
Besonders drastisch zeigt sich die eingetretene Abhängigkeit am Fall Nexperia. Der niederländische Halbleiterhersteller, seit 2016 im Besitz des chinesischen Technologiekonzerns Wingtech, produziert jene unscheinbaren, aber unverzichtbaren Leistungshalbleiter und diskreten Bauelemente, ohne die kein Auto fährt und keine Maschine läuft. MOSFETs, IGBTs, Dioden – Komponenten, die in jedem Elektromotor, jeder Steuerungseinheit, jedem Umrichter stecken. Sie sind das industrielle Äquivalent zu Schrauben und Muttern, nur dass man sie nicht einfach ersetzen kann.
Die Ironie der Geschichte: Nexperia ging aus der Halbleitersparte von Philips hervor, wurde später an chinesische Investoren verkauft – und produziert heute in Großbritannien und Hamburg jene kritischen Bauteile, von denen die gesamte europäische Automobil- und Maschinenindustrie abhängt. Das 1992 beschworene Embargo-Szenario ist damit keine theoretische Übung mehr. Im Falle geopolitischer Spannungen zwischen Europa und China könnte die Produktion von Millionen Fahrzeugen und Industrieanlagen schlicht zum Stillstand kommen. Nicht wegen fehlender Hochtechnologie, sondern wegen simpler Leistungshalbleiter.
Die Bundesregierung erkannte die Brisanz spät: 2022 untersagte sie Nexperia die vollständige Übernahme des deutschen Chip-Herstellers Elmos – nachdem die Transaktion bereits genehmigt worden war. Eine hilflose Geste der Schadensbegrenzung, die das grundlegende Problem nicht löst: Die Abhängigkeit besteht längst, quer durch alle Industriezweige. Deutsche Autobauer, Maschinenbauer, Anlagenhersteller sind auf Gedeih und Verderb auf Zulieferer angewiesen, deren strategische Kontrolle in Peking liegt.
Was 1992 als abstraktes Bedrohungsszenario formuliert wurde – der Kontrollverlust über Schlüsselkomponenten als Hebel zur industriellen Erpressung –, ist heute operative Realität. Nur dass die Situation noch prekärer ist als damals befürchtet: Denn die Industrien, die durch Chip-Lieferengpässe bedroht werden, sind selbst nicht mehr in der robusten Verfassung der 1990er Jahre, sondern bereits geschwächt und im Umbruch.
Das bittere Déjà-vu
Die Sorge um technologische Souveränität, die Angst vor Abhängigkeit, die Erkenntnis, dass Chips geopolitische Waffen sind: All das beherrscht heute wieder die Schlagzeilen. Nur heißt der vermeintliche Gegner jetzt China statt Japan, und die kritische Abhängigkeit richtet sich nach Taiwan, nicht nach Tokio. Doch während Europa 1992 noch die industrielle Kraft gehabt hätte, gegenzusteuern, fehlt diese Kraft heute zunehmend.
Die „Chip-Kriege“ sind kein neues Phänomen. Sie sind ein wiederkehrendes Muster westlicher Industriegeschichte, ein Zyklus aus Selbstzufriedenheit, Schock, hektischem Aufholen und strukturellem Kontrollverlust. Was in den 1980ern mit Japan begann, wiederholte sich mit Südkorea, später mit Taiwan – und kulminiert nun in der Auseinandersetzung um künstliche Intelligenz und die Chips, die sie antreiben.
Die historische Perspektive lehrt vor allem eines: Wie träge industriepolitisches Umdenken ist, und wie irreversibel technologischer Bedeutungsverlust werden kann, wenn Versäumnisse erst einmal eingetreten sind. Europa hat auf die Warnungen von 1992 reagiert – aber zu langsam, zu zögerlich, zu halbherzig. Die damals noch vorhandene industrielle Basis, die einen Neustart hätte tragen können, ist heute selbst zur Baustelle geworden.
Der Fall Nexperia liefert die bittere Pointe zur Warnung von vor drei Jahrzehnten: Das Embargo-Szenario muss nicht einmal eintreten, um zu wirken. Allein die Möglichkeit, dass Peking den Hahn zudrehen könnte, verschiebt bereits heute Machtverhältnisse und Verhandlungspositionen. Europa hat nicht nur die Chip-Produktion verloren – es hat die Fähigkeit verloren, seine industrielle Zukunft autonom zu gestalten. Die Frage ist nicht mehr, ob wir schneller lernen, sondern ob wir überhaupt noch die Ressourcen und die Zeit haben, das Gelernte umzusetzen. Die Uhr tickt nicht mehr – sie hat bereits geschlagen.
References
| ↑1 | »Im Jahr 2000 sehen wir uns wieder« |
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