Der Stuttgarter Immobilienmarkt gerät unter Druck – steigende Angebote, sinkende Nachfrage, fallende Preise. Doch die derzeitigen Verwerfungen sind kein vorübergehendes Phänomen, sondern Vorboten einer tiefgreifenden Strukturkrise. Industrieregionen wie Stuttgart, Ingolstadt oder Wolfsburg müssen sich auf einen langanhaltenden Abwärtstrend einstellen, denn die Illusion der schnellen Diversifikation verschleiert die brutale Realität pfadabhängiger Ökonomien.


Der Immobilienmarkt ist das Seismograph einer Region. Was sich derzeit in Stuttgart abspielt, offenbart weit mehr als eine vorübergehende Delle im Konjunkturzyklus. Die Zahl der angebotenen Objekte ist um zwanzig bis dreißig Prozent gestiegen, während die Nachfrage einbricht. Verkaufszeiten dehnen sich auf ein halbes Jahr aus, die Preise sind binnen Jahresfrist von knapp 6000 auf 5800 Euro pro Quadratmeter gefallen((Bosch, Porsche, Daimler: Wie Tausende Entlassungen Stuttgarter Immobilienmarkt erschüttern)). Für das kommende Jahr prognostizieren Makler weitere Rückgänge von fünf bis fünfzehn Prozent. Oberflächlich betrachtet könnte man diese Entwicklung als Folge gestiegener Zinsen interpretieren – von einem Prozent auf über vier Prozent seit Mitte 2022. Doch diese Erklärung greift zu kurz.

Die eigentliche Ursache liegt tiefer und ist struktureller Natur. Stuttgart ist das Epizentrum einer Transformation, die das Fundament seiner Wirtschaftskraft attackiert. Bosch, Daimler, Porsche – die Namen stehen nicht nur für Unternehmen, sondern für ein gesamtes industrielles Ökosystem, das über Jahrzehnte Wohlstand, Beschäftigung und soziale Stabilität garantierte. Dieses Ökosystem bricht nun unter dem Druck der Elektromobilität, der Digitalisierung und des globalen Wettbewerbs zusammen. Die massiven Entlassungswellen sind keine temporären Anpassungsmaßnahmen, sondern Symptome eines fundamentalen Systemwechsels.

Pfadabhängigkeit ist der ökonomische Fachbegriff für das, was Stuttgart nun zum Verhängnis wird. Die Region hat sich über Generationen auf Verbrennungsmotoren, Präzisionsmechanik und eine bestimmte Form industrieller Wertschöpfung spezialisiert. Diese Spezialisierung war lange Zeit ein unschätzbarer Vorteil – sie wird nun zur Falle. Wenn die automobile Wertschöpfung wegbricht, fehlt nicht einfach nur ein Industriezweig unter vielen. Es verschwindet das Gravitationszentrum einer gesamten Regionalökonomie, inklusive Zulieferer, Dienstleister, Forschungseinrichtungen und einer Kultur technischer Exzellenz.

An dieser Stelle setzt gewöhnlich das politische Narrativ der Diversifikation ein. Künstliche Intelligenz, Green Tech, Cybersicherheit, Luft- und Raumfahrt – die Liste der angeblichen Wachstumsbranchen wird routiniert abgespult. Das Problem ist nicht, dass diese Felder keine Zukunft hätten. Das Problem ist die implizite Annahme, sie könnten in absehbarer Zeit die wegfallenden Arbeitsplätze in Anzahl und Vergütung kompensieren. Diese Annahme ist eine Illusion.

Die Diversifikations-Illusion folgt einer simplen, aber fatalen Logik[1]Die Diversifikations-Illusion der Standortpolitik: Wenn eine Branche schrumpft, muss man eben andere Branchen wachsen lassen. Was in der Theorie schlüssig klingt, ignoriert die Realität ökonomischer Systeme. Neue Branchen entstehen nicht auf Zuruf. Sie benötigen spezifisches Humankapital, Infrastruktur, Netzwerkeffekte und oft kritische Masse, die nicht beliebig replizierbar ist. Ein Ingenieur für Verbrennungsmotoren wird nicht über Nacht zum KI-Experten. Ein Zulieferbetrieb für Getriebe kann nicht einfach auf Quantencomputer umschwenken. Die Qualifikationen, die Jahrzehnte lang wertvoll waren, verlieren ihre Marktgängigkeit.

Hinzu kommt die räumliche Dimension. Technologische Wachstumsbranchen konzentrieren sich typischerweise in wenigen Metropolregionen mit ausgeprägten Agglomerationseffekten. Stuttgart mag eine dieser Regionen sein, aber selbst hier gilt: Die Anzahl der gut bezahlten Jobs in Software-Entwicklung oder Biotechnologie wird den Wegfall hunderttausender Industriearbeitsplätze nicht annähernd kompensieren. Und für die Zulieferregionen im Umland, die oft noch stärker auf die Automobilindustrie fokussiert sind, sieht die Perspektive noch düsterer aus.

Der vermeintliche Fachkräftemangel erweist sich in diesem Kontext als semantisches Täuschungsmanöver. Was als Mangel an Arbeitskräften dargestellt wird, ist in Wahrheit ein strukturelles Mismatch: falsche Qualifikationen am falschen Ort zur falschen Zeit. Nicht fehlende Menschen sind das Problem, sondern fehlende Passungen zwischen Angebot und Nachfrage auf Arbeitsmärkten, die sich in fundamentaler Transformation befinden. Der Begriff „Fachkräftemangel“ suggeriert ein quantitatives Problem mit einer quantitativen Lösung – mehr Zuwanderung, mehr Ausbildung. Er verschleiert die qualitative Dimension des Strukturbruchs.

Was bedeutet dies für Regionen wie Stuttgart, aber auch für Ingolstadt, München oder Wolfsburg? Die nüchterne Antwort lautet: Sie müssen sich auf einen langanhaltenden Abwärtstrend einstellen. Der alte Stand, gemessen an Beschäftigung, Einkommen und Wirtschaftskraft, wird auf absehbare Zeit nicht wieder erreicht werden. Die Vorstellung einer V-förmigen Erholung ist Wunschdenken. Realistischer ist ein L-förmiger Verlauf – ein Absturz, gefolgt von einer langen Plateauphase auf niedrigerem Niveau.

Diese wirtschaftliche Schrumpfung muss sich zwangsläufig im Immobilienmarkt niederschlagen. Immobilienpreise sind letztlich Ausdruck lokaler Kaufkraft und Zukunftserwartungen. Wenn beides schrumpft, müssen die Preise folgen. Was in Stuttgart derzeit zu beobachten ist – steigende Angebote, sinkende Nachfrage, fallende Preise – ist nicht die Krise, sondern deren Ankündigung. Die eigentliche Anpassung steht noch bevor.

Besonders prekär wird die Situation für Eigentümer, deren günstige Finanzierungen auslaufen und die nun mit Anschlusszinsen von vier Prozent oder mehr konfrontiert werden. Viele von ihnen haben in der Annahme gekauft, dass ihre Arbeitsplätze sicher und ihre Immobilien werthaltig sind. Beide Annahmen erweisen sich nun als fragil. Der Zwangsverkauf unter Wert wird zunehmen, was das Angebot weiter erhöht und die Preise zusätzlich unter Druck setzt. Eine Abwärtsspirale, die sich selbst verstärkt.

Der Mietmarkt bietet keine Entlastung. Zwar weichen viele vom Kauf auf die Miete aus, aber auch hier sind der Nachfrage Grenzen gesetzt – nämlich die sinkende Kaufkraft der Haushalte. Mietpreissteigerungen stoßen schnell an ökonomische und politische Widerstände. Gleichzeitig sinkt die Attraktivität von Immobilieninvestitionen, wenn mit langfristig stagnierendem oder sinkendem Wertzuwachs zu rechnen ist.

Regionale Differenzierungen werden zunehmen. Lagen mit exzellenter Infrastruktur, S-Bahn-Anschluss und urbanem Flair werden relativ stabil bleiben. Aber die Peripherie, die bislang von den Spillover-Effekten des industriellen Booms profitierte, wird härter getroffen werden. Eigenheime in schlecht angebundenen Vororten, die in Boomzeiten noch als solide Wertanlage galten, könnten zu Belastungen werden.

Die politische Reaktion folgt erwartbaren Mustern. Förderprogramme werden aufgelegt, Qualifizierungsoffensiven verkündet, Innovationscluster ausgerufen. All das mag an den Rändern helfen, aber es ändert nichts an der Grundtatsache: Die industrielle Basis, auf der der Wohlstand dieser Regionen beruhte, erodiert schneller, als neue Fundamente entstehen können. Der Verweis auf Baden-Württembergs wirtschaftliche Stärke und vermögende Bevölkerung ist dabei nicht falsch, aber er kaschiert die Verteilungsfrage. Vermögen ist hochkonzentriert; die breite Mittelschicht, die von industriellen Gehältern lebte, ist vom Abstieg bedroht.

Der Vergleich mit Detroit wird regelmäßig als übertrieben zurückgewiesen. Zu Recht – Stuttgart verfügt über eine diversifiziertere Wirtschaftsstruktur und bessere institutionelle Voraussetzungen. Aber der Verweis auf Detroit sollte nicht als Prophezeiung totalen Verfalls verstanden werden, sondern als Warnung vor einem Prozess: dem allmählichen Verlust ökonomischer Dynamik, dem Wegzug junger Talente, der Erosion der Steuerbasis, der Fragmentierung sozialer Strukturen. Stuttgart wird nicht Detroit werden – aber es wird auch nicht mehr das Stuttgart der Boomjahre sein.

Die Illusion besteht darin zu glauben, dieser Wandel ließe sich managen wie ein gewöhnlicher Konjunkturzyklus. Strukturkrisen funktionieren anders. Sie sind langwierig, schmerzhaft und selten umkehrbar. Die Regionen, die am stärksten von einer spezifischen industriellen Konstellation profitierten, zahlen nun den Preis für diese Spezialisierung. Das ist weder ungerecht noch vermeidbar – es ist die Logik ökonomischer Entwicklung in kapitalistischen Systemen. Joseph Schumpeters schöpferische Zerstörung klingt theoretisch elegant, aber für diejenigen, die auf der Seite der Zerstörung stehen, ist sie schlicht Zerstörung.

Was bleibt, ist die Notwendigkeit nüchterner Erwartungen. Stuttgart und vergleichbare Regionen werden nicht kollabieren, aber sie werden schrumpfen – an Beschäftigung, an Einkommen, an Immobilienwerten. Dieser Prozess ist nicht in zwei Jahren vorbei, sondern wird ein bis zwei Dekaden andauern. Die politische und gesellschaftliche Aufgabe besteht nicht darin, den alten Zustand wiederherzustellen – das ist aussichtslos. Sie besteht darin, die Schrumpfung sozial verträglich zu gestalten, Härten abzufedern und neue, realistischere Fundamente zu schaffen.

Der Stuttgarter Immobilienmarkt ist in diesem Sinne nicht das Problem, sondern ein Symptom. Er zeigt, was geschieht, wenn industrielle Gewissheiten kollabieren und keine vergleichbaren Alternativen in Sicht sind. Wer heute eine Immobilie in Stuttgart kauft, erwirbt nicht nur Quadratmeter Wohnfläche, sondern auch ein Stück Strukturwandel. Die Preise werden das in den kommenden Jahren widerspiegeln.