In einer auf Effizienz getrimmten Wirtschaft gilt Redundanz als Makel. Doch was Betriebswirte als überflüssig aussortieren, erweist sich in Evolution und Technik als Bedingung für Stabilität und Innovation. Eine Rehabilitierung des scheinbar Nutzlosen.
Die Parole der Gegenwart lautet: Effizienz. Verschlankte Prozesse, optimierte Abläufe, eliminierte Doppelstrukturen. Was nicht unmittelbar zur Wertschöpfung beiträgt, fliegt aus dem Programm. Redundanz, das Vorhalten von scheinbar überflüssigen Kapazitäten, rangiert bestenfalls als notwendiges Übel. Dabei verkennt diese Sichtweise fundamental, was Biologen, Systemtheoretiker und Ingenieure längst erkannt haben: Ohne Redundanz kollabieren komplexe Systeme beim ersten Störfall.
Die Evolutionstheorie liefert die instruktivste Lektion. Lange dominierte die Vorstellung, Organismen würden durch perfekte Anpassung überleben – Adaptation als Königsweg der Natur. Vor einigen Jahrzehnten warfen Stephen Jay Gould und Elisabeth Vrba jedoch einen Begriff in die Diskussion, der dieses eindimensionale Denken aufbrach: Exaptation. Gemeint sind Funktionen, für die zunächst kein erkennbarer Bedarf besteht, die aber später unvorhergesehene Verwendung finden. Hätte die Evolution solche scheinbar nutzlosen Strukturen von vornherein eliminiert, wären Spezies bei gravierenden Umweltveränderungen handlungsunfähig gewesen. Überleben sichert nicht maximale Anpassung, sondern die Fähigkeit zur Variation.
Adolf Portmann prägte dafür in seinem Werk „An den Grenzen des Wissens“ den Begriff des „Spielraums des Offenen“ – jener Zone, in der Varianten entstehen, für die funktionales Denken keine Erklärung hat. Das reine Funktionieren kann nicht das alleinige Lebensziel sein. Fortschritt benötigt, so Portmann, ein gewisses Maß an Über-das-Ziel-Hinausschießen, einen Überschuss an Möglichkeiten. Der Anthropologe Gregory Bateson formulierte es systemtheoretisch präziser: Redundanz ist in biologischen wie sozialen Systemen nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Sie ist Quelle von Stabilität, Voraussagbarkeit und Integration.
Was in der Natur selbstverständlich ist, gilt in menschlichen Organisationen als Kostenfaktor. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik beschreibt das Dilemma unverblümt: Redundanz ist das „bewährteste Mittel zur Sicherstellung der Verfügbarkeit“, aber „unausweichlich mit der Bereitstellung von Überkapazität verbunden“. Zwei Systeme vorhalten, obwohl eines reichen würde – für Controller ein Albtraum. Für Ingenieure in Raumfahrt oder Krankenhäusern hingegen selbstverständliche Überlebensstrategie. Ferenc Biedermann prägte dafür den Begriff der „intentionalen Redundanz“: Der Mensch als vernunftbegabtes Wesen kann die Vorteile von Redundanz erkennen und gezielt einsetzen.
Die Regionalentwicklung kennt das Problem der permanenten Effizienzsteigerung als „kontinuierliche Perfektionierung von Unzulänglichkeiten“. Das evolutorische Gegengift: Verzicht auf Maximaleffizienz. Durch die Tolerierung unterschiedlicher, nicht-optimaler Entwicklungspfade erhöht sich die Varianz möglicher Lösungen. Entwicklung wird nicht durch einen von Knappheit diktierten „one best way“ vorangetrieben, sondern durch eine „verschwenderische“ Produktion von Optionen, die Handlungsspielräume offenhalten. Gould formulierte es pointiert: Nur das Nebeneinander nicht-optimaler Pfade beweist, dass Evolution stattgefunden hat, denn optimale Designs löschen alle historischen Wegmarken aus.
Daniel Dennett, in seinem Werk „Darwins gefährliches Erbe“ durchaus kritischer Gesprächspartner Goulds, stimmt in dieser Frage zu. Redundanz ist für ihn kein überflüssiges Übermaß, sondern ein „Kran“ im Aufbau komplexer Systeme. Redundante Merkmale und Prozesse ermöglichen es evolutionären Mechanismen, unter variablen und unsicheren Bedingungen zu funktionieren. Sie erhöhen nicht trotz, sondern wegen ihrer scheinbaren Unwirtschaftlichkeit die Überlebensfähigkeit. Redundanz wirkt als Puffer gegen Unvorhergesehenes, als Reservoir für Innovation, als Grundlage von Robustheit.
In der Betriebswirtschaftslehre firmiert diese Einsicht unter dem Begriff „Organizational Slack“. Die Literatur bescheinigt: Redundanz kann zu Innovation führen, muss es aber nicht zwangsläufig. Diese Einschränkung ist bezeichnend. Sie verrät die Unfähigkeit, Redundanz als Wert an sich zu begreifen, jenseits ihrer instrumentellen Verwertbarkeit. Redundanz ist kein Instrument zur Innovationsförderung, sondern Bedingung der Möglichkeit von Anpassung überhaupt.
Alles in allem: Redundanz ist bei näherer Betrachtung besser als ihr Ruf. Diese Feststellung klingt defensiv, ist aber revolutionär. Sie stellt das Effizienzparadigma grundsätzlich infrage. In einer Welt zunehmender Komplexität und Unvorhersehbarkeit erweisen sich vermeintlich verschwendete Ressourcen als Lebensversicherung. Wer alles auf Kante näht, riskiert beim ersten Riss den Totalausfall. Oder anders gesagt: Das Funktionslose von heute ist die überlebenswichtige Funktion von morgen. Eine auf Effizienz fixierte Gesellschaft sollte das nicht vergessen – bevor sie sich zu Tode optimiert.
Quellen:
Vom Wert des (scheinbar) Funktionslosen – Exaptation

