Mehr als zwölf Jahre ist es her, dass das „Bankhaus Rott“ vor einer strukturellen Krise der europäischen Automobilindustrie warnte[1]Automobilindustrie in der Sackgasse?. Damals klangen Begriffe wie „chinesische Konkurrenz“ und „Elektromobilität“ noch nach fernen Bedrohungen. Heute, im Jahr 2025, lesen sich die damaligen Prognosen wie eine erschreckend präzise Blaupause der Gegenwart. Ein Rückblick, der zeigt: Die Zeichen waren längst an der Wand – doch die Industrie, Medien und Politik wollten sie nicht sehen.


Als die Zukunft noch vermeidbar schien

Im Jahr 2013 veröffentlichte Bankhaus Rott[2]Das „Bankhaus Rott“ ist kein reales Bankhaus mehr, sondern ein Deckname eines Investmentbankers, der aktuell im aktiven Dienst eines großen Bankhauses steht. Die wahre Identität hinter … Continue reading eine Analyse, die man getrost als prophetisch bezeichnen kann. Während die deutsche Automobilindustrie noch auf dem Höhepunkt ihrer Macht schien, identifizierten die Analysten bereits die tektonischen Verschiebungen, die das Fundament dieser Macht erschüttern würden. „Es handelt sich um eine strukturelle und weniger um eine konjunkturelle Krise“, schrieben sie damals – eine Einschätzung, die heute bitter aktuell klingt.

Damals, im Jahr 2013, produzierten 46 deutsche Automobilfabriken in Europa – von insgesamt 210 in der EU. Eine beeindruckende Dominanz, die jedoch bereits die Saat ihrer eigenen Fragilität in sich trug. Überkapazitäten waren schon damals offensichtlich, Werksschließungen angekündigt. Doch die Premiumhersteller BMW, Daimler und Audi fühlten sich noch sicher, geschützt durch starke Absätze in den USA und Ostasien. Die Restwerte ihrer Fahrzeuge waren stabil, das Geschäftsmodell schien solide.

Die vier Reiter der Autoapokalypse

Bankhaus Rott und weitere Beobachter identifizierten  2013 vier zentrale Bedrohungen für die europäische Automobilindustrie. Betrachten wir sie einzeln – und prüfen, was aus ihnen geworden ist.

Erstens: Die verschlafene Elektromobilität. Franz Alt warnte bereits damals auf Telepolis, die Automobilindustrie verschlafe die Zukunft durch „nur halbherzige Anstrengungen“ bei Elektroautos. Das Denken sei noch „von der guten alten Zeit geprägt, in der das Auto Ausdruck der Freiheit war“.

Heute, 2025, ist diese Prophezeiung auf schmerzhafte Weise wahr geworden. Während Tesla schon 2013 die Richtung vorgab, zögerten deutsche Hersteller jahrelang, investierten weiter in Verbrennungsmotoren und verloren dadurch wertvollen Vorsprung. Als sie schließlich umschwenkten, war es in vielen Bereichen bereits zu spät.

Zweitens: Der Wertewandel. 2013 stellten Analysten bereits fest, dass das Auto als Statussymbol bei der Jugend (18-25 Jahre) „ausgedient, zumindest jedoch merklich an Bedeutung verloren“ habe.

Heute, eine Generation später, hat sich dieser Trend nicht nur bestätigt, sondern exponentiell verstärkt. Carsharing, ÖPNV-Abos, E-Scooter – die urbane Mobilität hat sich fundamental gewandelt. Für viele junge Menschen in Großstädten ist der Besitz eines eigenen Autos nicht mehr Freiheitssymbol, sondern überflüssiger Kostenfaktor.

Drittens: Die chinesische Konkurrenz. Hier zeigt sich die vielleicht präziseste Vorhersage der Rott-Analyse. „Strategisch orientieren sich die Chinesen sehr stark an japanischen Vorbildern“, zitierte man damals Helmut Becker. Chinesische Staatsunternehmen kauften ausländische Hersteller, um sich Know-how anzueignen. Die Warnung war klar: „Die Chinesen sind als Konkurrenten in Zukunft ernst zu nehmen.“

Heute, 2025, ist aus der Warnung bittere Realität geworden. BYD hat sich zum weltweit größten Elektroautohersteller entwickelt und verkauft mehr E-Autos als Tesla. Chinesische Marken wie NIO, XPeng und Geely drängen aggressiv auf den europäischen Markt – mit moderner Technologie, attraktiven Preisen und hoher Qualität.

Viertens: Die Infragestellung des Individualverkehrs. Johann-Günter König stellte 2013 die „ketzerische Frage: Wer benötigt ein eigenes Auto?“ und forderte den Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel.

Diese Frage ist heute, angesichts von Klimakrise und Verkehrsinfarkt in den Städten, längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Von der Warnung zur Katastrophe

Was 2013 noch als theoretische Bedrohung skizziert wurde, hat sich zu einer existenziellen Krise verdichtet. Die deutschen Premiumhersteller, die damals noch als weitgehend unberührt galten, kämpfen heute an allen Fronten. Volkswagen plant massive Stellenabbaus und Werksschließungen – undenkbar im Jahr 2013. Mercedes und BMW verlieren Marktanteile in China, ihrem einst wichtigsten Wachstumsmarkt. Die Umstellung auf Elektromobilität verschlingt Milliarden, während die Gewinne schrumpfen.

Die Leasingquote, die 2013 bei Mittel- und Oberklassewagen bereits 60 Prozent betrug, ist weiter gestiegen. Die „Autobanken“ – damals schon als kritisch eingeschätzt – sind heute zu einem Risikofaktor für die gesamte Industrie geworden. Bei stagnierenden Realeinkommen und explodierenden Preisen können sich immer weniger Menschen ein neues Auto leisten. Die hohen Fixkosten der Hersteller – ihre „Sunk Costs“ – erweisen sich als Klotz am Bein.

Die unbeantwortete Frage: Warum?

Die wohl bedrückendste Erkenntnis beim Lesen der Rott-Analyse von 2013 ist nicht die Präzision ihrer Vorhersagen. Es ist die Tatsache, dass alle diese Entwicklungen sichtbar waren. Es gab keine unvorhersehbaren Schocks, keine plötzlichen Umbrüche. Die Zeichen standen an der Wand – deutlich, lesbar, unübersehbar.

Warum hat die Industrie nicht reagiert? Warum wurden die Warnungen ignoriert? Die Antworten liegen vermutlich in der Natur großer, erfolgreicher Organisationen: Selbstzufriedenheit, Pfadabhängigkeit, die Unfähigkeit, sich das Ende des eigenen Geschäftsmodells vorzustellen.

Als VW-Chef Martin Winterkorn 2013 noch vom „besten Auto der Welt“ sprach und damit Diesel-Fahrzeuge meinte, war die Katastrophe bereits programmiert. Der Dieselskandal, der 2015 explodierte, war nur ein Symptom einer viel tieferen Krise: der Unfähigkeit, Veränderung rechtzeitig zu erkennen und zu akzeptieren.

Die Lehre für 2025/2026

Was lehrt uns der Blick zurück auf 2013?

Zunächst einmal Demut. Die Zukunft ist oft vorhersehbarer, als wir glauben – wenn wir bereit sind, unangenehme Wahrheiten anzuerkennen. Die Analysten des Bankhauses Rott hatten 2013 recht mit nahezu jeder ihrer Prognosen. Nicht weil sie übermenschliche Weitsicht besaßen, sondern weil sie die vorhandenen Trends ernst nahmen und zu Ende dachten.

Zweitens: Strukturelle Krisen lassen sich nicht mit Konjunkturprogrammen lösen. Die Abwrackprämie, auf die der Rott-Beitrag hinwies, konnte den Niedergang bestenfalls verzögern, nicht aufhalten. Der Vergleich mit Stahlindustrie und Bergbau war treffend – und ernüchternd.

Drittens: Zeit ist in technologischen Umbrüchen keine Verbündete. Jedes verlorene Jahr verschärft die Position. Die deutschen Autobauer haben zwischen 2013 und heute fast ein Jahrzehnt verschenkt, in dem sie an alten Geschäftsmodellen festhielten. Diese Zeit werden sie nicht zurückholen können.

Ausblick: Welche Warnungen ignorieren wir heute?

Die spannendste Frage aber lautet: Welche Analysen von 2025 werden wir im Jahr 2037 mit dem gleichen ungläubigen Kopfschütteln lesen? Welche Warnungen ignorieren wir heute, die uns in zwölf Jahren als erschreckend offensichtlich erscheinen werden?

Vielleicht sind es die Risiken der Künstlichen Intelligenz für ganze Berufsfelder. Vielleicht die Verwundbarkeit unserer digitalen Infrastruktur. Vielleicht die Konsequenzen des Klimawandels für die Landwirtschaft. Oder die geopolitischen Verschiebungen durch den Aufstieg des globalen Südens.

Die Automobilindustrie lehrt uns: Die größte Gefahr liegt nicht in unvorhersehbaren Schocks. Sie liegt in unserer Weigerung, die sichtbaren Trends ernst zu nehmen. Die Prophezeiung von 2013 war keine Magie – sie war Analyse. Und diese Fähigkeit zur Analyse, verbunden mit dem Mut zur Veränderung, ist heute wichtiger denn je.

Das Bankhaus Rott hat 2013 die richtigen Fragen gestellt. Die Automobilindustrie hat sie nicht beantwortet. Das ist die eigentliche Tragödie dieser Geschichte – und ihre zeitlose Lehre.

References

References
1 Automobilindustrie in der Sackgasse?
2 Das „Bankhaus Rott“ ist kein reales Bankhaus mehr, sondern ein Deckname eines Investmentbankers, der aktuell im aktiven Dienst eines großen Bankhauses steht. Die wahre Identität hinter „Bankhaus Rott“ ist bekannt, wird aber aus Selbstschutz nicht öffentlich gemacht. Die Website „bankhaus-rott.de“ existiert nicht mehr mit aktuellen Inhalten, und die Online-Präsenz wurde eingestellt, was darauf hindeutet, dass es sich um ein fiktives oder als Pseudonym genutztes Label handelt, nicht um eine tatsächliche Bank im klassischen Sinne. Es wird in Zusammenhang mit dem Finanzjournalisten Frank Meyer genannt, der mit „Rott & Meyer“ auch als Finanzblog aktiv war, was jedoch eingestellt wurde. Somit gibt es kein aktives traditionelles Bankhaus namens „Rott“ mehr.