Das trügerische Band – Wie die Ökonomie der Soziologie auf die Sprünge hilft, FAZ Nr. 244, Seite N5 vom 21.10,98 von Autor Christian Geyer:

 … Vor allem die funktionalen Systemtheoretiker machen gegen den individualistischen Ansatz Front, der ihnen gegen Durkheims Paradigma zu verstoßen scheint, Soziales nur durch Soziales zu erklären. Aber abgesehen davon, dass die Systemtheorie nicht so sehr Erklärungen als vielmehr Klassifikationen sozialer Erscheinungen liefert, ist der Widerspruch zu Durkheims Postulat nur ein scheinbarer. Darauf hat bereits 1991 Gebhard Kirchgässner in seinem grundlegenden Werk “Homo oeconomicus” hingewiesen. Kirchgässner bestreitet den Gegensatz zu soziologischen Ansätzen im Anschluss an Durkheim, indem er daran erinnert, dass der Rekurs auf die Intention der Individuen ja keineswegs bedeute, dass das gesellschaftliche Ergebnis ihres Handelns auch ihren Intentionen entspricht. Dieses braucht >in keiner Weise intendiert sein, und ist es auch in vielen Fällen nicht<.
Ohnehin sind im Rahmen des ökonomischen Ansatzes für das Handeln der Individuen weniger die Intentionen ausschlaggebend als die Restriktionen (“constraints”), denen sich jene gegenübersehen. Insofern gesellschaftliche Veränderungen hier vorwiegend aus Veränderungen der Restriktionen erklärt werden, also aus Veränderungen des Handlungsspielraums, geht es im Grund um nichts anderes, als Soziales durch Soziales zu erklären. Nicht auszuschließen also, dass die Soziologie ihren Gesellschaftsbegriff am Ende dort am besten aufgehoben sieht, wo sie ihn jetzt noch nicht bedroht glaubt: im methologischen Individualismus der modernen ökonomischen Theorie.

Gemeint ist hier vor allem das “rational choice” Modell, das er zuvor wie folgt interpretiert:

Mit >rational-choice< ist hier gemeint, dass einzelne Individuen eine rationale Auswahl unter sich bietenden Handlungsalternativen treffen und damit eine freilich nicht notwendigerweise materiell verstandene Nutzenmaximierung betreiben .. . Kollektives Verhalten wird hier als das intendierte oder nicht intendierte Ergebnis solcher individueller rationaler Handlungen erklärt. Im Gegensatz zur traditionellen Lehrbuchversion ist der moderne Homo oeconomicus nicht immer und überall ein “Optimierer” im Sinne eines wandelnden Computers, weswegen der ökonomische Verhaltensansatz auch mit dem Konzept der “eingeschränkten Rationalität” vereinbar ist, die unter unvollständiger Information und Zeitdruck eine passable Alternative wählt. Vollends verfehlt ist der Verdacht, Verhalten werde hier noch einem simplen Stimulus-Response-Modell erklärt, wie man es aus dem psychologischen Behaviorismus kennt. Als Theorie des individuellen Verhaltens ist das “rational choice”- Modell zudem alles andere als eine Theorie des Verhaltnes vereinzelter Individuen. Letztere wäre gleichermaßen unsoziologisch wie ahistorisch; genau eine solche liegt paradoxerweise den meisten soziologischen Varianten der modischen Individualisierungstheorie zugrunde. Der Individualismus auf dem das “rational choice”-Modell fußt, ist dagegen ein methologischer im Sinne Joseph Schumpeters; sein Hauptzweck ist nicht etwa die – womöglich auch noch hinreichende Erklärung des Verhaltens einzelner Individuen, sondern die Erklärung des “typischen”, durchschnittlichen Verhaltens, wie es sich als soziales Resultat darstellt. Kollektive Entscheidungen ergeben sich demnach – im Unterschied zu anderen sozialwissenschaftlichen Theorien – aus der Aggregation individueller Entscheidungen und nicht aus dem eigenständigen Handeln von Kollektiven. Eine These aus dem klassischen Programm der Nationalökonomie, mit der die soziologische Einsicht durchaus vereinbar ist, dass Individuen sich innerhalb eines Kollektivs anders verhalten, als wenn sie allein sind (Kollektivbewußtsein)

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