Das ostwestfälische Familienunternehmen Benteler meldete für 2024 das „drittbeste Jahr der Unternehmensgeschichte“ – bei sinkenden Umsätzen und schrumpfenden Gewinnen. Die Zahlen offenbaren mehr über den Zustand der deutschen Automobilzulieferindustrie als jede Krisenstudie: Was einst als Misserfolg gegolten hätte, gilt heute als Erfolg. Ein Beitrag über die Kunst des strategischen Rückzugs.


Es gibt eine eigentümliche Rhetorik in deutschen Industrieunternehmen, wenn die Krise chronisch wird. Man spricht von „herausfordernden Marktbedingungen“, von „Transformation“ und „Resilienz“, und man feiert Zahlen, die vor wenigen Jahren noch als Warnsignal gegolten hätten. Benteler, der ostwestfälische Automobilzulieferer mit über 20.000 Mitarbeitern, liefert dafür ein lehrreiches Beispiel: 8,2 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2024, ein Rückgang von 600 Millionen Euro gegenüber dem Vorjahr. Das bereinigte operative Ergebnis fällt von 793 auf 594 Millionen Euro. Und dennoch verkündet CEO Ralf Göttel, man habe das „drittbeste Jahr in der Unternehmensgeschichte“ erzielt.

Diese Formulierung ist bemerkenswert, denn sie offenbart die Verschiebung der Maßstäbe. Was bedeutet es, wenn schrumpfende Erträge als Erfolg gerahmt werden? Es bedeutet zunächst, dass die Vergleichsgruppe nicht mehr das eigene Unternehmen in besseren Zeiten ist, sondern die Konkurrenz im gleichen Elend. Benteler hat überlebt, während andere straucheln. Das ist die neue Messlatte: nicht Wachstum, sondern Überleben mit positiven Margen. Die Automotive-Sparte steigert ihr Ergebnis trotz geringerer Volumina um 27 Millionen Euro auf 365 Millionen – durch Effizienzsteigerungen, Kostenmanagement, durch das, was man in der Managementsprache „Optimierung“ nennt und was faktisch bedeutet: mehr aus weniger machen, weil es vom Markt kein Mehr mehr gibt.

Man muss Göttel zugutehalten, dass er die strukturellen Probleme offen benennt. Er spricht von „struktureller Überkapazität, mangelndem Wachstum und überholten Kooperationsmodellen“ in der Zulieferindustrie. Es gebe keinen „automatischen Rückkehrpfad auf einen Wachstumskurs“. Das ist ungewöhnlich ehrlich für einen CEO, der gleichzeitig Investoren beruhigen und neue Werke in Marokko ankündigen muss. Doch diese Ehrlichkeit enthüllt das Dilemma der gesamten Branche: Die deutschen Automobilzulieferer haben ihr Geschäftsmodell auf permanentes Volumenwachstum aufgebaut, auf steigende Produktionszahlen der OEMs, auf die Logik industrieller Skalierung. Nun, da diese Prämissen wegbrechen, bleibt nur der strategische Rückzug auf defensive Positionen.

Die militärische Metapher ist hier nicht zufällig. Was Benteler vollzieht, ist eine klassische Frontverkürzung: das geordnete Zurücknehmen überdehnt gehaltener Stellungen, um die verbliebenen Ressourcen auf verteidigbare Kernpositionen zu konzentrieren. Die Stahlsparte Steel/Tube, einst Rückgrat des Konzerns, leidet unter „stark rückläufigen Mengen und Preisen“. Energiekosten, die in Deutschland strukturell höher liegen als in den USA oder Asien, verschärfen die Lage. Benteler investiert nun geografisch breit gestreut, baut in Wyoming, Spartanburg und Shreveport aus, eröffnet ein neues Werk in Kenitra, Marokko. Die Botschaft ist klar: Der Standort Deutschland ist nicht mehr der natürliche Gravitationspunkt der industriellen Wertschöpfung. Er wird zu einem Standort unter vielen, und die Frage ist nicht, ob man dort wächst, sondern ob man dort überhaupt noch profitabel produzieren kann.

Diese geografische Diversifikation ist, richtig verstanden, weitsichtig. Wer seine Produktion näher an die Wachstumsmärkte verlegt, reduziert Transportkosten, Wechselkursrisiken und politische Abhängigkeiten. Wer in Marokko produziert, sichert sich Zugang zum europäischen und afrikanischen Markt bei deutlich niedrigeren Lohnkosten. Das ist keine Flucht, sondern strategische Neupositionierung. Doch diese Neupositionierung hat ihren Preis: Sie bedeutet faktisch die Anerkennung, dass die bisherige industrielle Basis in Deutschland nicht mehr tragfähig ist.

Was Benteler als „Innovationen“ präsentiert – Hot-Formed Battery Trays für E-Mobilität, autonome Mobilitätslösungen unter der Marke HOLON, smarte Produktionstechnologien nach Industry 4.0 – sind notwendige Anpassungen an veränderte Nachfragemuster. Doch diese Anpassungen kosten. Sie erfordern Investitionen zwischen 250 und 325 Millionen Euro jährlich, bei gleichzeitig schrumpfenden Margen. Die Zulieferer befinden sich in einer Zwickmühle: Wer nicht investiert, verliert technologisch den Anschluss. Wer investiert, riskiert bei sinkenden Volumina die Profitabilität. Viele Zulieferer, so Göttel, „unterbieten sich für sinkende Margen und verlieren so Innovationskraft“. Das Ergebnis ist ein Preiskampf nach unten, bei dem am Ende alle verlieren außer den OEMs, die ihre Einkaufsmacht ausspielen.

Die Konzentration auf der Lieferantenseite verstärkt diesen Effekt. Wenige große Player dominieren, haben erheblichen Einfluss auf Preise und Konditionen. Die Abhängigkeit von den Automobilherstellern bleibt total. Benteler mag von „mehr Partnerschaft und Transparenz entlang der Lieferkette“ sprechen, aber die Realität ist asymmetrisch: Die OEMs diktieren die Konditionen, die Zulieferer führen aus. Der Wandel zur Elektromobilität verschärft diese Asymmetrie noch, denn er verändert die Wertschöpfungsarchitektur grundlegend. Traditionelle Kompetenzen in Verbrennungstechnologie werden entwertet, neue Kompetenzen in Batterietechnologie und Elektronik müssen teuer eingekauft oder entwickelt werden.

Bentelers Geschäftsjahr 2024 ist insofern exemplarisch: Es zeigt ein Unternehmen, das mit erheblichem Aufwand einen geordneten Rückzug organisiert. Die Refinanzierung der Schuldenlast ist gesichert, die Liquidität stabil, die Zahlungsfähigkeit gewährleistet. Das sind die Erfolge, die zählen, wenn das Wachstum ausbleibt. Für 2025 prognostiziert Benteler einen Umsatz zwischen 8,0 und 8,5 Milliarden Euro, also bestenfalls Stagnation, wahrscheinlicher weiteren leichten Rückgang. Das bereinigte EBITDA soll zwischen 580 und 630 Millionen Euro liegen, also ungefähr auf dem Niveau von 2024. Das ist die neue Normalität: Seitwärtsbewegung als Erfolgsgeschichte.

Historisch betrachtet ist die Frontverkürzung eine Überlebensstrategie, keine Niederlage. Sie setzt voraus, dass man die eigene Lage realistisch einschätzt und rechtzeitig handelt, bevor die überdehnte Front zusammenbricht. Genau das tut Benteler: Man zieht sich aus unrentablen Positionen zurück, konzentriert sich auf Bereiche mit positiven Margen, diversifiziert geografisch und technologisch. Das erfordert strategische Klarheit und die Bereitschaft, liebgewonnene Illusionen aufzugeben. Viele Wettbewerber halten zu lange an der Fiktion fest, dass die alten Volumina zurückkehren werden. Sie investieren in Überkapazitäten, kämpfen um Marktanteile in schrumpfenden Märkten und geraten dabei in existenzielle Schieflage.

Was Bentelers Zahlen eigentlich erzählen, ist die Geschichte einer Branche, die ihre Geschäftsgrundlage verliert und noch nicht weiß, wie die neue aussehen wird. Die deutsche Automobilindustrie war über Jahrzehnte auf Wachstum programmiert, auf Export, auf globale Skalierung. Diese Programmierung funktioniert nicht mehr, aber die institutionellen Strukturen, die Kapitalstrukturen, die Kompetenzprofile sind noch immer darauf ausgerichtet. Bentelers „ordentliche Zahlen“ sind respektabel, weil sie zeigen, dass das Unternehmen den Übergang nicht katastrophal gestaltet. Sie sind das Ergebnis strategischer Weitsicht: der Einsicht, dass Rückzug keine Schande ist, wenn die Alternative der Zusammenbruch wäre.

Die Normalisierung dieser Entwicklung ist vielleicht das Bemerkenswerteste. Wenn Göttel das drittbeste Jahr der Unternehmensgeschichte verkündet, dann nicht, weil 2024 besonders gut war, sondern weil die Führung begriffen hat, dass die Maßstäbe sich verschoben haben. Der Maßstab ist nicht mehr das Wachstum, sondern das kontrollierte Schrumpfen, die geordnete Anpassung an veränderte Realitäten. Das ist keine Niederlage, sondern Realismus. Bentelers strategischer Rückzug ist, unter den gegebenen Umständen, weitsichtig – weil er anerkennt, was ist, statt zu verteidigen, was nicht mehr zu halten ist.


Quellen:

„Den Autoherstellern fehlt jetzt die große Karotte, die sie ihren Zulieferern vor die Nase halten können“

Research Update: Global Auto Supplier Benteler International AG Assigned Preliminary ‚BB-‚ Ratings; Outlook Stable

Trotz herausfordernder Marktbedingungen: BENTELER mit solidem Geschäftsjahr 2024 auf Kurs

„Heftiger Gegenwind“: Benteler meldet Umsatzrückgang – bleibt aber profitabel

Benteler starts work on advanced manufacturing plant in Morocco, boosting job creation and integrating Industry 4.0 technologies

Welche Wachstumsstrategie und Zukunftsperspektiven verfolgt die Benteler International AG?

BENTELER at GlassBuild 2025: Innovation, Partnership & Local Commitment