Peter Kruse prognostizierte 2013 die „Komplexitätsfalle“ der Vernetzung und den Wandel der Führung. Seine Thesen haben sich bestätigt – doch seine Lösung „mehr Vernetzung“ offenbart heute ihre Grenzen. Ein Beitrag über die Ohnmacht moderner Führung und die Frage, ob Kooperation wirklich das Heilmittel gegen Unübersichtlichkeit ist.


Es gibt Gedanken die ihre Zeit überdauern, weil sie zeitlos sind. Und es gibt Gedanken, die ihre Zeit überdauern, weil sie prophetisch waren. Peter Kruses Analyse der Führung in vernetzten Systemen von 2013[1]Zukunft von Führung: kompetent, kollektiv oder katastrophal ? gehört zur zweiten Kategorie. Der früh verstorbene Psychologe und Komplexitätsforscher beschrieb eine Welt, die sich seither nicht etwa verändert hat – sie hat sich verschärft, radikalisiert, ins Extrem getrieben.

Kruses Kernthese war von bestürzender Klarheit: Steigende Vernetzungsdichte erzeugt Komplexität, die klassische Führungsmuster delegitimiert. Der Zusammenhang zwischen Handlung und Konsequenz verschwimmt in nichtlinearen Systemen. Führungskräfte, gewohnt an kausale Steuerung, erleben Ohnmacht. Die Lösung, so Kruse, liege ausgerechnet in noch mehr Vernetzung – in kooperativen, netzwerkübergreifenden Entscheidungsstrukturen, die Legitimation nicht durch Hierarchie, sondern durch Sinn stiften.

Die Bestätigung kam schneller als gedacht

Über ein Jahrzehnt später liest sich Kruses Text wie eine Zustandsbeschreibung der Gegenwart. Die Pandemie offenbarte die Fragilität globaler Lieferketten. Geopolitische Verwerfungen demonstrierten, wie wenig lineare Planungslogik noch trägt. Der Aufstieg generativer KI konfrontiert Organisationen mit Veränderungsgeschwindigkeiten, die jede Strategieplanung zur Makulatur machen. Kruses „Komplexitätsfalle“ ist längst keine Prognose mehr – sie ist betriebliche Realität.

Auch der von ihm beobachtete Wertewandel hat sich materialisiert. Die Generation Y, die sich laut Kruse hälftig zwischen Sicherheitsbedürfnis und Autonomiewunsch aufteilte, ist im Arbeitsmarkt angekommen. Generation Z treibt diese Polarisierung weiter. Unternehmen reagieren mit differenzierten Arbeitsmodellen, hybridem Arbeiten, Purpose-Narrativen. Die Frage nach dem Sinn der Arbeit ist vom philosophischen Seminar in die Personalabteilung gewandert.

Kruses Fokus auf „Intangibles“ – Beziehungskapital, Strukturkapital, Humankapital – wirkt heute geradezu hellsichtig. In einer Ökonomie, in der Plattformen die Infrastruktur bilden und Daten das Öl ersetzen, sind weiche Faktoren die harten Wettbewerbsvorteile. Employer Branding, Unternehmenskultur, organisationales Lernen: Das sind die strategischen Ressourcen, um die gekämpft wird.

Die uneingelöste Verheißung der Vernetzung

Doch bei aller prophetischen Kraft von Kruses Analyse lohnt der kritische Blick auf seine zentrale Lösungsstrategie. „Vernetzung mit noch mehr Vernetzung begegnen“ – dieser Ansatz birgt eine gefährliche Zirkularität. Denn mehr Vernetzung bedeutet nicht automatisch bessere Steuerbarkeit. Sie kann auch Verantwortungsdiffusion erzeugen, Entscheidungslähmung, Overload.

Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt: Netzwerke produzieren nicht nur Weisheit der Vielen, sondern auch Filterblasen, Echokammern, Resonanzkatastrophen. Kooperative Entscheidungsstrukturen können Legitimation stiften – sie können aber auch zur endlosen Abstimmungsschleife verkommen, in der niemand mehr entscheidet, weil alle eingebunden werden müssen. Die Qualität der Vernetzung, nicht ihre Quantität, entscheidet über ihren Wert.

Kruse selbst deutete diese Zweifel an, wenn er auf kritische Stimmen wie Baumann verwies. Doch er entwickelte die Dialektik nicht weiter. Dabei wäre genau das heute geboten: eine Führungstheorie, die Vernetzung nicht als Universallösung feiert, sondern ihre Grenzen, Risiken, Dysfunktionalitäten mitdenkt. Resiliente Systeme brauchen nicht nur Offenheit und Konnektivität – sie brauchen auch Begrenzungen, Regeln, bewusste Entkopplungen.

Führung als reflexive Praxis

Was Kruse richtig erkannte und was heute virulenter denn je ist: Führung muss sich neu legitimieren. Die alte Formel – Hierarchie rechtfertigt Autorität – trägt nicht mehr. Führungskräfte müssen ihren Mehrwert explizit machen, begründen, warum ihre Rolle existiert.

Doch dieser Druck könnte produktiv sein, wenn er zu reflexiver Führungspraxis führt. Nicht Vernetzung als Selbstzweck, sondern bewusstes Gestalten von Beziehungsqualitäten. Nicht permanente Kooperation, sondern situatives Entscheiden, wann Vernetzung hilfreich ist und wann klare Verantwortung gefragt ist. Nicht Sinnstiftung als Marketingvokabel, sondern ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Zweck der Organisation.

Peter Kruse hat die Pathologien der Gegenwart früh erkannt. Seine Analyse bleibt bestechend. Doch die Lösung, die er skizzierte, greift zu kurz. Vernetzung ist kein Allheilmittel gegen Komplexität – sie ist Teil des Problems und Teil der Lösung zugleich. Die Kunst besteht darin, diese Dialektik auszuhalten und produktiv zu gestalten. Das wäre eine Führungsaufgabe, die der Komplexität unserer Zeit gewachsen wäre.

Die Beschäftigung mit den Gedanken Peter Kruses lohnt heute mehr denn je.


Quellen:

Peter Kruse über die Zukunft der Führung

8 Regeln für den totalen Stillstand in Unternehmen (Peter Kruse)

Prof. Peter Kruse über Changemanagement