Deutschland reformiert nicht prophylaktisch, sondern reaktiv – ein Muster, das sich von der Reichsgründung über 1918 bis heute wiederholt. Die mentalitätsgeschichtliche Wurzel liegt tief: Der „Hang zum Unbedingten“, den Friedrich Meinecke diagnostizierte, macht pragmatische Politik unmöglich. Erst der Ukrainekrieg offenbarte die fatale Gasabhängigkeit. Nun wird die Energiewende selbst zum deutschen Sonderweg – moralisch aufgeladen, kompromisslos, während andere Länder pragmatisch agieren. Was der Soziologe Erwin Scheuch diagnostizierte und Alfred Herrhausen zu ändern hoffte, prägt die Republik bis heute – mit fatalen Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit.


Ein Blick in die jüngere Geschichte Deutschlands legt eine unbequeme Vermutung nahe: Wir lernen nur aus Katastrophen. Die rechtzeitige Einleitung notwendiger Strukturreformen scheitert allzu oft an den Beharrungstendenzen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. So befreite erst der Erste Weltkrieg die deutsche Gesellschaft von der Vormachtstellung und den Privilegien des Adels und der Junker, obschon beide Gruppen danach noch über Einfluss verfügten, mit dem sie gegen die Weimarer Republik agitierten. Auch die Gründung des Deutschen Reiches 1871 gelang nur auf militärischem Weg, über den Sieg im Deutsch-Französischen Krieg. Dann der Zweite Weltkrieg, der einen Neuanfang erzwang. Es ist fraglich, ob die deutsche Gesellschaft von sich aus die nötigen Veränderungen, wenngleich in einem anderen Zeitverlauf, eingeleitet und durchgeführt hätte.

Der Soziologe Erwin Scheuch brachte diese Diagnose auf den Punkt: „Tief greifende Reformen sind bei uns nur nach katastrophenartiger Zuspitzung einer Situation möglich. Genutzt wurde eine solche Situation 1949, als sich das erste Kabinett Adenauer auf eine neue Wirtschaftsordnung festlegte: die soziale Marktwirtschaft.“

Alfred Herrhausen, einer der wenigen deutschen Wirtschaftsführer mit strategischem Weitblick, erkannte das Problem – und hoffte auf Besserung: „Das Wirtschaftswunder in Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg erklärt sich nicht zuletzt durch das im Zusammenbruch erzwungene Aufbrechen verkrusteter Verteilungsstrukturen und die dadurch bewirkte Notwendigkeit zum Neubeginn. Diese Phase ist vorüber. Ist damit auch die Chance zur Fortentwicklung verloren? Es wäre ein Armutszeugnis für unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, wenn sich der Status quo nur mittels Katastrophen und wirtschaftlicher Krisen aufbrechen ließe. Institutionelle Erneuerung muss auch mit weniger abrupten Wechseln möglich sein. Aber dazu muss man sie wollen. An die Stelle von zwanghafter Ausgangslage, der man gehorsam folgt, weil es keine andere Möglichkeit gibt, muss die bewusste Zielsetzung treten, mit der man gestaltend führt.“

Herrhausens Ermordung 1989 beraubte Deutschland eines Wirtschaftsführers, der bereit war, „gestaltend zu führen“ statt Besitzstände zu verteidigen. Die Gegenwart bestätigt Scheuchs pessimistische Analyse eher als Herrhausens optimistische Vision.

Die Mechanik der Erstarrung

Drei strukturelle Faktoren erklären die deutsche Reformunfähigkeit.

Erstens: Das korporatistische Modell mit seiner konsensualen Entscheidungsfindung begünstigt Besitzstandswahrung. Jede Interessengruppe besitzt Vetomacht – Arbeitgeber, Gewerkschaften, Verbände. Reform bedeutet Verlust für mindestens eine Gruppe. Der kleinste gemeinsame Nenner ist der Status quo.

Zweitens: Die föderale Struktur mit ihrer Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern schafft zusätzliche Blockadepunkte. Was in zentralistisch organisierten Staaten durchsetzbar wäre, scheitert an Zuständigkeitsfragen und Partikularinteressen.

Drittens: Der deutsche Wohlstand ermöglicht das Aufschieben. Solange es „uns“ noch gut geht, fehlt der Leidensdruck. Die Katastrophe wird zum brutalen Korrektiv dieser Selbstzufriedenheit.

Betrachten wir die jüngere Vergangenheit: Die Abhängigkeit von russischem Gas wurde trotz aller Warnungen bis zum Überfall auf die Ukraine 2022 zementiert. Die Digitalisierung – während Estland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion radikal neu aufbaute, verwaltet Deutschland seine verkrusteten Strukturen. Die Verkehrswende – die Automobilindustrie genießt einen Schutzstatus, der systematische Anpassungen verhindert. Erst die drohende technologische Marginalisierung durch chinesische Elektromobilität erzwingt halbherzige Kurskorrekturen.

Die Illusion von 1918 und die Nostalgie von heute

Die deutsche Unfähigkeit, strategisches Scheitern rechtzeitig zu erkennen, hat historische Vorläufer. Im Herbst 1917 glaubten viele im Kaiserreich noch an die militärische Wende. Die Armee stand tief in Frankreich und Belgien, im Osten schien mit dem revolutionären Russland Frieden möglich. Doch die strategische Realität sah anders aus: Die Blockade würgte die Wirtschaft ab, die Ressourcen schwanden, und mit dem Kriegseintritt der USA war das Kräftegleichgewicht endgültig gekippt. Erst 1918, als es längst zu spät war, erkannte die Oberste Heeresleitung die Notwendigkeit eines strategischen Rückzugs. Der Schock dieser späten Einsicht erschütterte die Gesellschaft bis in ihre Grundfesten.

Die Parallelen zur Gegenwart sind verblüffend. Auch heute verfügt Deutschland über enorme Ressourcen: eine der schlagkräftigsten Industriebasen Europas, wissenschaftliche Exzellenz, technisches Know-how. Und wie 1917 hält sich der Glaube, mit den bewährten Mitteln doch noch zu siegen.

„Deutsche Tugenden“, „Ingenieursdenken“, „Qualität made in Germany“ – diese Begriffe tauchen reflexhaft auf, wenn nach Rezepten gegen die Wirtschaftskrise gesucht wird. Doch reicht das noch, wenn sich die Welt fundamental verändert hat? Wenn Digitalisierung, Künstliche Intelligenz und interdisziplinäres Arbeiten mehr verlangen als das Festhalten an bewährten Mustern?

Das Festhalten an der Vorstellung, mit den alten Mitteln und Methoden doch noch erfolgreich zu sein, verzögert die notwendige Anpassung an neue Realitäten. Wie 1918 fehlt die strategische Weitsicht, rechtzeitig umzusteuern.

Was nach 1918 folgte, sollte als Warnung dienen. Statt die strategischen Fehler aufzuarbeiten, griff eine Legende um sich: die Dolchstoßlegende. Das im Felde angeblich unbesiegte Heer sei von der Heimatfront – Sozialdemokraten, Streikenden, „Verrätern“ – erdolcht worden. Diese Erzählung war nicht nur historisch falsch, sie war politisch toxisch. Sie diente dazu, Verantwortung abzuwälzen, Sündenböcke zu benennen und die Gesellschaft zu spalten.

Auch heute wird zunehmend mit dem Finger auf vermeintliche innere Feinde gezeigt: auf Politiker, die angeblich Interessen verraten, auf gesellschaftliche Gruppen, die den Fortschritt behindern, auf „die da oben“ oder „die anderen“, die schuld seien an der Misere. Diese Rhetorik lenkt von den tatsächlichen strukturellen Problemen ab – von versäumten Investitionen in Bildung und Infrastruktur, von zu zögerlicher Digitalisierung, von der Abhängigkeit von überholten Geschäftsmodellen.

Der deutsche Hang zum Unbedingten

Doch die Blockaden reichen noch tiefer. Friedrich Meinecke legte in seiner Abrechnung mit dem deutschen Sonderweg, „Die deutsche Katastrophe“ (1946), die mentalitätsgeschichtliche Wurzel frei: „Individuell im deutschen Geiste lag ein oft stürmischer Hang, vom Bedingten der Wirklichkeit, die ihn umgab und vielleicht oft stärker bewegte, reizte und quälte als andere Völker, rasch emporzusteigen zum Unbedingten, zu einer metaphysischen, zuweilen auch nur quasi-metaphysischen Welt, die ihn erlösen sollte. In Luther wie in der Goethezeit und im deutschen Idealismus, zumal dem Hegelschen, kulminierte dieser Hang.

Dieser „Hang zum Unbedingten“ erklärt, warum Deutschland pragmatische Politik so schwer fällt. Während andere Nationen Kompromisse als Ausdruck politischer Reife verstehen, gilt in Deutschland der Kompromiss als Verrat an der reinen Idee. Das Bedingte – die Wirklichkeit mit ihren Widersprüchen und Zwängen – wird nicht gestaltet, sondern soll überwunden werden durch den Sprung ins Absolute.

Die verhängnisvolle Wendung ereignete sich, so Meinecke, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: „Wie aber, wenn nun das Unbedingte im Physischen selbst, ihm immanent, gesucht wurde, wenn in der Wirklichkeit selbst die Mittel und Wege entdeckt wurden, um ihre Wirrnis zu entwirren und ihre Enge zu überwinden? Das geschah seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch alles, was man den neuen Wirklichkeitssinn, Realismus, Realpolitik usw. nannte und als neuen Leitstern im Handeln pries. Nun hatte man sich damit wiederum, wie man wähnte, ein Unbedingtes erobert. Das heißt, der alte metaphysische Drang des deutschen Geistes hatte sich wieder einmal gezeigt, aber aus Irrtum und Perversion keine wirkliche metaphysische Sphäre sich erobert, sondern eine irdische mit dem Range des Metaphysischen bekleidet oder doch ihm angenähert.“

Die Pointe ist bestechend: Der deutsche Geist kann nicht pragmatisch sein. Selbst wo er vorgibt, realistisch zu werden, erhebt er das Irdische zum Absoluten. Treitschkes berüchtigtes Diktum, das Wesen des Staates sei „Macht und abermals Macht und zum Dritten Macht“, illustriert diese Perversion. Macht gehört zum Staat, aber sie darf nicht sein alleiniges Wesen sein, „ohne ihn ethisch zu entleeren“. Doch genau das geschah: Die Macht wurde zum neuen Unbedingten, zum säkularisierten Absolutum. „Das unbedachte Wort Treitschkes“, so Meinecke, „hat viel dazu beigetragen, den Machtrausch im deutschen Bürgertum hervorzubringen.“

Hans-Ulrich Wehler ergänzt die Vorgeschichte. Wer, wie der Deutsche, „den Geist bildet, beherrscht“, dem „muss zuletzt die Herrschaft werden“ – diese Überzeugung verband die Skepsis gegenüber staatlicher Einheit mit der Gewissheit kultureller Überlegenheit. Die „Kulturnation“ sollte das Defizit der politischen Nation kompensieren. Wo politische Gestaltungskraft fehlte, trat geistige Mission. Diese Kompensationsstrategie prägt die deutsche politische Kultur bis heute.

Der neue Sonderweg

Derzeit beschreitet Deutschland erneut einen Sonderweg, diesmal in Sachen Energiewende. Während andere Länder einen pragmatischen Ansatz wählen, lautet es in Deutschland wieder: Entweder-Oder. Frankreich setzt weiter auf Atomkraft, Schweden reaktiviert sie, selbst die Niederlande und Belgien revidieren Ausstiegspläne. Deutschland dagegen: gleichzeitiger Ausstieg aus Atom und Kohle, bei gleichzeitiger Abhängigkeit von russischem Gas – bis die Katastrophe des Ukrainekriegs diese Illusion zerstörte.

Hier wiederholt sich Meineckes Diagnose mit verblüffender Präzision. Nicht mehr die Macht wird mit metaphysischem Rang bekleidet, sondern die Klimarettung. Das Bedingte – eine pragmatische Energiepolitik, die Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Klimaschutz abwägt – wird zum Unbedingten erhoben. Die Energiewende wird zur Weltanschauungsfrage, zum neuen säkularisierten Absolutum.

Das ist Max Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik in Reinform. Die Gesinnung – „Atom ist Teufelszeug“, „Kohle ist des Teufels“ – dominiert über die Verantwortung für Versorgungssicherheit und Industriestandort. Wer pragmatische Einwände vorbringt, wer Atomkraft als Brückentechnologie oder einen schrittweisen Kohleausstieg vorschlägt, gilt als Bremser, als Verräter am reinen Prinzip.

Wehlers „Weltbeglückung“ kehrt zurück, nur säkularisiert als Klimapolitik. Deutschland inszeniert sich erneut als moralischer Vorreiter, dem „zuletzt die Herrschaft werden“ muss – diesmal nicht durch kulturelle Überlegenheit, sondern durch ökologische Vorbildfunktion. Die alte Kompensation in neuem Gewand: Wo wirtschaftliche Dynamik schwindet, wo die Digitalisierung verschlafen, die Infrastruktur vernachlässigt, die Bildung vernachlässigt wurde, tritt die moralische Mission. Die „Kulturnation“ wird zur „Klimanation“. Das „Ingenieursdenken“ zur neuen Form des Unbedingten – nicht mehr Geist als Erlöser, sondern technische Perfektion als Heilsversprechen.

Die Konsequenzen sind absehbar: höchste Industriestrompreise in Europa, Abwanderung energieintensiver Produktion, Abhängigkeit von fossiler Verstromung in windstillen Zeiten, ein Stromnetzausbau, der dramatisch hinterherhinkt. BASF verlagert Produktion nach China, Stahlwerke kämpfen ums Überleben, mittelständische Betriebe rechnen durch, ob sie bleiben können. Und wieder fehlt das, was Herrhausen einforderte: gestaltende Führung. Stattdessen: moralische Selbstgewissheit, die strategisches Denken ersetzt.

Deutschland, das sich als Vorreiter sieht, könnte erneut als warnendes Beispiel enden. Nicht weil Klimaschutz falsch wäre, sondern weil die Art und Weise – ideologisch, kompromisslos, alternativlos – ökonomisch ruinös ist. Das ist der neue Sonderweg: gut gemeint, schlecht gemacht. Die Selbstüberschätzung der „Kulturnation“, die glaubte, durch Geist zu beherrschen, wiederholt sich als klimapolitische Hybris.

Das Armutszeugnis

Meineckes Warnung vor der Bekleidung des Irdischen mit metaphysischem Rang hätte aktueller nicht sein können. Wie Treitschkes Machtrausch „viel dazu beigetragen“ hat, „den Machtrausch im deutschen Bürgertum hervorzubringen“, so trägt die moralische Überhöhung der Energiewende dazu bei, einen Gesinnungsrausch zu erzeugen, der blind macht für die Bedingungen erfolgreicher Politik. Das Unbedingte, im Bedingten gesucht, führt zur Katastrophe – 1918 wie heute.

Herrhausen schrieb, es wäre ein Armutszeugnis, wenn sich der Status quo nur mittels Katastrophen aufbrechen ließe. Das eigentliche Armutszeugnis liegt noch tiefer: Deutschland kann nicht pragmatisch reformieren, weil es strukturell und mentalitätsgeschichtlich unfähig ist zum Sowohl-als-auch. Der „Hang zum Unbedingten“ verhindert das geduldige Gestalten des Bedingten. Stattdessen kompensiert Deutschland Handlungsschwäche durch Gesinnungsstärke, politisches Versagen durch moralische Überhöhung.

Die historische Konstante ist frappierend. 1918 brauchte es die totale militärische Niederlage, um die Illusion vom Endsieg zu zerstören. 1945 die vollständige Kapitulation, um die nationalsozialistische Hybris zu beenden. 1949 die alliierten Vorgaben und den Marshallplan, um die soziale Marktwirtschaft zu etablieren. 2022 den russischen Überfall auf die Ukraine, um die Abhängigkeit von russischem Gas als strategischen Fehler zu erkennen.
Deutschland reformiert nicht prophylaktisch, sondern reaktiv. Nicht gestaltend, sondern getrieben. Die Katastrophe ist das brutale Korrektiv einer Gesellschaft, die ohne äußeren Zwang nicht zu handeln vermag.

Die Frage ist nicht ob, sondern nur: Welche Katastrophe muss diesmal eintreten, damit das Umdenken beginnt? Wie viele Industriearbeitsplätze müssen verloren gehen, wie viele Unternehmen abwandern, wie prekär muss die Versorgungssicherheit werden, bevor Deutschland bereit ist, vom Unbedingten zum Bedingten zurückzukehren – zur Kunst des Möglichen, die Politik eigentlich sein sollte?

Was Deutschland heute braucht, ist nicht Nostalgie, sondern Realismus. Nicht die Rückbesinnung auf vermeintlich bewährte Tugenden, sondern die nüchterne Analyse dessen, was tatsächlich funktioniert und was nicht. Nicht Schuldzuweisungen nach dem Muster der Dolchstoßlegende, sondern die Bereitschaft, strukturelle Fehler einzugestehen und zu korrigieren. Die Lektion von 1918 sollte sein: Realismus rechtzeitig ist besser als Illusionen bis zum bitteren Ende.


Quellen:

Lernt Deutschland nur aus Katastrophen?

Deutschland als globaler, säkularisierter Heilsbringer welthistorisch überhöht

Der alte metaphysische Drang des deutschen Geistes