Es ist ein Ritual, das sich Jahr für Jahr wiederholt: Ökonomische Institute und führende Volkswirte veröffentlichen Prognosen über die Entwicklung der Wirtschaft. Oft dauert es nur wenige Monate, bis die erste Korrektur erfolgt – denn „unerwartete“ Ereignisse zwingen zum Kurswechsel. Das Paradoxe daran: Je näher das Ereignis rückt, desto klarer können Ökonomen erklären, warum die Dinge ihren Lauf nehmen mussten. Aber in den entscheidenden Momenten – vor dem Schock, vor der Krise – versagen die Frühwarnsysteme der Zunft regelmäßig. Schon Winston Churchill spöttelte: „Der beste Zeitpunkt für die Prognose ist unmittelbar nach dem Ereignis.“


Die Exzesse der Prognoseindustrie – aktuelle Beispiele aus Deutschland

Gerade die Entwicklung der deutschen Wirtschaft in den letzten Jahren liefert dazu eine eindrucksvolle Illustration:

  • Für die Jahre 2023 und 2024 gingen nahezu alle führenden Institute von zumindest geringem Wachstum aus – tatsächlich schrumpfte die deutsche Wirtschaft zweimal in Folge und rutschte in eine Rezession. Die Prognosen lagen damit fast durchgehend daneben, wobei nach jeder offiziellen Schätzung eine „Korrektur“ erfolgte.
  • Für 2025 schwanken die Vorhersagen zwischen minimalem Wachstum und weiterem Rückgang, die Unsicherheit ist größer denn je, und die Institute passen ihre Vorhersagen regelmäßig an.
  • Auch geopolitische Schocks wie die Folgen des Ukraine-Kriegs oder Inflationssprünge wurden nicht hinreichend vorausgesehen. Meist waren die Prognosen zu optimistisch und folgten mit zeitlicher Verzögerung den tatsächlichen Entwicklungen.

Besonders präsent in den Medien ist der Ökonom Marcel Fratzscher, Präsident des DIW Berlin. Seine Prognosen – etwa zur Inflationsentwicklung und Konjunkturerholung – lagen wiederholt deutlich daneben. Besonders seine Einschätzung, die Inflation gehe spätestens 2023 spürbar zurück, hat sich als Fehleinschätzung erwiesen. Stand 2025 befindet sich Deutschland immer noch in einer Rezession, trotz mehrfacher Vorhersagen einer „baldigen Erholung“. Das hat Fratzscher inzwischen den spöttischen Ruf als „personifizierte Kontraindikation“ eingebracht: Viele Beobachter meinen, jeweils das Gegenteil seiner Prognose trete ein. Diese Kritik ist keine Einzelstimme, sondern Ausdruck wachsender Skepsis gegenüber der Stichhaltigkeit ökonomischer Vorhersagen insgesamt.

Modellwelten und Wirklichkeitsflucht

Einer der Gründe für dieses Versagen liegt in der Praxis der Modellbildung. Wirtschaftstheorie ist in hohem Maße mathematisiert. Sie arbeitet in sogenannten Modellwelten, die auf vereinfachten Annahmen beruhen: Märkte sind effizient, Informationen sind perfekt verteilt, Akteure handeln rein rational – so die Prämissen des „Homo Oeconomicus“. Der Physiker Lee Smolin urteilte zutreffend, dass der wissenschaftliche Gehalt solcher Modelle, gemessen am Anspruch mathematischer Exaktheit, oft dürftig ausfällt.

John Kenneth Galbraith spottete über den „Modellplatonismus“, der die Ökonomie zu einer perfekten, aber in sich geschlossenen Welt erhebt. Die innere Logik, mathematische Stringenz und formale Konsistenz gelten als Gütekriterien, während die Abbildung realer Verhältnisse oft vernachlässigt wird. Fachfremde werden ausgeschlossen – und noch schlimmer: Das tatsächliche Wirtschaftsleben, mit seinen Brüchen und chaotischen Dynamiken, ist in den Modellen schlicht ausgeblendet.

Das Orakel als Wirtschaftsweiser

In dieser Situation verwundert es nicht, dass Ökonomen in den Medien, als „Wirtschaftsweise“, in recht prominenter Rolle auftreten. Sie sollen Krisen erkennen und analysieren, ihre Prognosen sind gefragt wie nie. Doch gerade in den Momenten akuter Umbrüche versagt die Diagnosefähigkeit. Das ist aus zweierlei Sicht fatal: Erstens, weil kein anderer Berufsstand ähnlich privilegierten Zugang zu Politik und Öffentlichkeit hat. Und zweitens, weil Prognosen, sobald sie zum Selbstzweck werden, die Fehleranfälligkeit des Systems sogar verstärken: Übertreibungen an den Märkten und fatale politische Steuerungsfehler lassen sich retrospektiv oft erklären, aber prospektiv kaum prognostizieren.

Die Krise als blinder Fleck

Dabei ist das Krisenversagen kein neues Phänomen. Schon der Bankier und Ökonom Felix Somary berichtete in seinen Erinnerungen über die Ignoranz der damaligen Theoriegeneration am Vorabend der Weltwirtschaftskrise. Trotz zahlreicher Konjunkturtheorien war die Elite blind gegenüber dem nahenden Sturm. Detailfragen bestimmten die Diskussionen, das große Ganze blieb unbeachtet.

Was also macht eine Disziplin aus, deren Kernkompetenz es sein sollte, nicht das Gleichmäßige, sondern das Irreguläre, den Schock, die Krise und den Boom zu erkennen – und die darin immer wieder versagt? Die Antwort ist vielschichtig:

Wissenschaftliche Defizite und institutionelle Strukturen

Erstens hält sich in der Mainstream-Ökonomik eine Form der Fortschrittsgläubigkeit und Modellseligkeit, die pathologische Züge annimmt. Überholte Theorien verschwinden nicht etwa evolutionär, wie Thomas Kuhn es für die Naturwissenschaften beschrieb. Vielmehr „leben“ sie fort, werden bisweilen vergessen oder kraft Einzelereignissen diskreditiert, um später wieder hervorgeholt zu werden – oft, weil neue Generationen alte Fehler wiederholen. Hyman Minskys Krisentheorie etwa, die Boom-Bust-Dynamiken und Instabilität explizit erklärt, wurde lange marginalisiert, taucht aber im Rezessionszyklus immer wieder als „neue Erkenntnis“ auf.

Zweitens besteht eine tief verwurzelte institutionelle Trennung zwischen der Analyse aktueller Wirtschaftslagen und der Kenntnis zentraler Zusammenhänge. In Erhebungen unter Fachleuten wird die Beherrschung spezieller Modelltechnik höher bewertet als die wirkliche Vertrautheit mit der wirtschaftlichen Lage. Szenarienbildung und systemische Risikoanalysen spielen kaum eine Rolle.

Drittens tendiert die Außenwelt – Politik, Medien und Wirtschaft – dazu, von Ökonomen punktgenaue Vorhersagen zu verlangen, die das Unvorhersehbare vorhersagen sollen. Damit werden Risiken systematisch unterschätzt, und die Ökonomie produziert nur noch Plausibilitäten, keine belastbaren Prognosen. Die Wissenschaft gerät so unter Druck, den Erwartungen mehr zu entsprechen als den realen, komplexen Zusammenhängen.

Was sollte sich ändern?

Die fundamentale Aufgabe der Ökonomie wäre es, weniger Prognosen als Szenarien zu liefern. Sie sollte systemische Risiken benennen, die Grenzen ihrer Modelle transparent machen und die Verbindung zur Realität nie verlieren. Die Disziplin muss akzeptieren, dass echte Voraussagen von Krisen und Schocks nur bedingt möglich sind – stattdessen sollen Modelle helfen, das Unbekannte zu strukturieren und die institutionellen Reaktionsmöglichkeiten zu verbessern.

Statt als Orakel aufzutreten, sollte die Ökonomie als Kartograph eines instabilen Geländes verstanden werden: Sie darf Unsicherheiten nicht als Defekte, sondern als charakteristische Merkmale der Wirtschaft begreifen. Die Wissenschaft wäre dann weniger ein Lieferant punktgenauer Prognosen, sondern ein Navigator für Politik, Gesellschaft und Märkte – der Risiken aufzeigt, Optionen sichtbar macht und zur Vorsorge beiträgt.

Fazit

Solange sich die Ökonomie als Disziplin des „ewigen gemäßigten Vorwärtsbrausens“ versteht, bleibt sie weltfremd und im entscheidenden Moment blind. Ein radikalerer Anspruch wäre, das Unvorhersehbare zu antizipieren und Unsicherheit produktiv zu managen. Erst dann könnte die Volkswirtschaft ihre Rolle als Krisenwarnsystem und analytisches Rückgrat einer komplexen Gesellschaft erfüllen.


Quelle:

Die Blindgänger: Warum die Ökonomen auch künftige Krisen nicht erkennen werden