Der Mercedes 190er war ein Volksauto mit Stern – bezahlbar, solide, begehrt. Sein Verschwinden markiert mehr als nur das Ende eines Modells: Es steht für eine strategische Weichenstellung, die Mercedes-Benz bis heute verfolgt und die das Unternehmen in eine existenzielle Krise geführt hat. Die Geschichte eines bewussten Verzichts.
Es gibt Automobile, die zu Ikonen werden, nicht weil sie das Schnellste oder Luxuriöseste ihrer Zeit waren, sondern weil sie einen Nerv trafen: Sie verbanden Qualität mit Erschwinglichkeit, Prestige mit Alltagstauglichkeit. Der Mercedes-Benz 190er, intern W201, war ein solches Auto. Als er 1982 auf den Markt kam, eröffnete er einer ganzen Generation den Zugang zur Marke mit dem Stern. Kompakt, sparsam, solide verarbeitet – und eben doch ein Mercedes. Ein Auto für Aufsteiger, für die bürgerliche Mitte, für alle, die Wert auf Substanz legten, ohne ein Vermögen ausgeben zu können.
Doch wer heute nach einem Nachfolger dieses Erfolgsmodells sucht, wird ihn nicht finden. Die C-Klasse, seit 1993 offiziell als Erbin des 190er positioniert, bewegt sich längst in anderen Sphären – technisch aufwendiger, teurer, exklusiver. Was auf den ersten Blick wie eine logische Modellpflege aussieht, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als strategischer Bruch: Mercedes-Benz hat den Massenmarkt verlassen.
Der kalkulierte Abschied vom Volksauto
Diese Entscheidung war kein Zufall, sondern Programm. In den 1990er Jahren vollzog das Unternehmen eine Neuausrichtung, die bis heute nachwirkt. Das Kalkül: Statt Volumen durch erschwingliche Modelle zu erzeugen, sollte die Marke durch konsequente Premium-Positionierung an Wert gewinnen. Niedrigpreisige Massenmodelle, so die Überzeugung, würden das mühsam aufgebaute Image verwässern. Die Produktionskosten für günstige Fahrzeuge stünden in keinem Verhältnis zum angestrebten Markenwert.
Diese Strategie folgte einer bestechenden Logik: Luxus verspricht höhere Margen, weniger Preisdruck, ein kultiviertes Markenbild. Warum sollte man sich mit schmalen Gewinnen im Volumengeschäft abmühen, wenn man im Premium-Segment deutlich profitabler arbeiten kann?
Doch die Rechnung ging nicht auf. Während Mercedes sich zurückzog, eroberten andere Hersteller das Terrain, das der 190er einst so erfolgreich besetzt hatte. Die Versuche, mit A-Klasse, CLA oder anderen Kompaktmodellen Anschluss zu halten, wirkten halbherzig – zu teuer für echte Volumenmodelle, zu kompromissbehaftet für überzeugte Premium-Käufer. Der 190er war anders gewesen: Er hatte nicht versucht, zwei Zielgruppen gleichzeitig zu bedienen. Er war authentisch.
Die Kosten der Exklusivität
Was Mercedes-Benz übersah oder in Kauf nahm: Ein breites Fundament an erschwinglichen Fahrzeugen stabilisiert ein Unternehmen. Es schafft Skalierungseffekte, bindet Kunden früh an die Marke, sichert Produktionsauslastung auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Der Verzicht auf dieses Fundament macht verwundbar. Wenn das Premium-Segment stagniert oder unter Druck gerät – etwa durch neue Wettbewerber, veränderte Kundenpräferenzen oder disruptive Technologien wie die Elektromobilität – fehlt das Auffangnetz.
Genau diese Entwicklung erleben wir heute. Mercedes-Benz kämpft mit sinkenden Marktanteilen, wirtschaftlichen Turbulenzen und einem Imageverlust, der die einst so strahlende Marke beschädigt hat. Die Luxusstrategie, die Sicherheit und Differenzierung versprach, erweist sich als Falle: Ohne starke Volumenmodelle gibt es keine Stabilität, keine breite Marktdurchdringung, keine Generation junger Käufer, die mit der Marke aufwächst.
Der 190er fehlt nicht nur als Produkt. Er fehlt als Symbol, als Versprechen, als Beweis dafür, dass Mercedes mehr sein kann als eine Luxusmarke für Privilegierte. Er war der Türöffner, der Mercedes zur Volksmarke im besten Sinne machte – nicht billig, aber erreichbar.
Die Wiederkehr des Verdrängten
Vielleicht liegt in dieser Geschichte eine größere Wahrheit über die deutsche Automobilindustrie: der Glaube, man könne sich durch Exklusivität dem Wettbewerb entziehen, durch höhere Preise der Notwendigkeit breiter Marktdurchdringung. Es ist eine Strategie der Flucht nach oben, die funktionieren kann – solange die Kunden folgen. Doch wenn sie ausbleiben, wenn sich Märkte verändern, wenn neue Spieler mit anderen Konzepten antreten, wird das fehlende Fundament zum Problem.
Der 190er steht heute noch auf vielen Straßen, oft gepflegt, manchmal geliebt, immer erkennbar. Er ist zum Klassiker geworden, gerade weil es keinen Nachfolger gibt. Mercedes-Benz hat sich für einen anderen Weg entschieden – einen Weg, der die Marke zwar in höhere Regionen führen sollte, der sie aber auch isoliert und verwundbar gemacht hat.

