„Entscheiden Sie selbst – aber natürlich im Sinne des Unternehmens.“ Was nach Vertrauen und Eigenverantwortung klingt, entpuppt sich oft als perfide Falle: Mitarbeitende werden mit widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert, die keine Lösung zulassen. Der Psychologe Gregory Bateson nannte dieses Phänomen „Double Bind“ – und warnte vor seinen zerstörerischen Folgen.
„Handeln Sie eigenverantwortlich“, heißt es heute in vielen Unternehmen. „Wir erwarten von Ihnen Eigeninitiative und unternehmerisches Denken.“ Klingt gut, modern, fortschrittlich. Doch hinter dieser Fassade verbirgt sich nicht selten eine der perfidesten Fallen der modernen Arbeitswelt: die Führung durch vage Erwartungen.
Das Prinzip ist einfach und zugleich tückisch: Statt klare Anweisungen zu geben, formuliert die Führung Erwartungen. Mitarbeitende sollen Probleme lösen, Aufträge erledigen, Entscheidungen treffen – selbstverständlich „im Sinne des Unternehmens“. Was genau dieser ominöse „Sinn des Unternehmens“ bedeutet, bleibt nebulös. Ebenso unklar bleiben die Grenzen des eigenen Handlungsspielraums, die Prioritäten bei Zielkonflikten, die tatsächlichen Werte, die im Zweifelsfall gelten sollen.
Wenn Mitarbeitende in einer konkreten Situation unsicher sind und Orientierung suchen, erhalten sie oft dieselbe Antwort: Sie müssten selbst entscheiden – natürlich wiederum im Sinne des Unternehmens. Die Verantwortung wird delegiert, die Klarheit jedoch nicht. Und hier beginnt das eigentliche Dilemma.
Die Anatomie der Falle
Denn was passiert, wenn etwas schiefgeht? Dann heißt es plötzlich, man habe die falsche Entscheidung getroffen. Die Freiheit, die einem zuvor gewährt wurde, erweist sich als Illusion. Wenn ein Kunde verärgert ist, obwohl man nach bestem Wissen und Gewissen im Interesse des Unternehmens gehandelt hatte, verschärft sich die Lage erst recht: Schließlich könne es ja nicht im Sinne des Unternehmens sein, Kunden zu vergraulen.
Das Muster ist immer dasselbe: Wie man es macht, macht man es falsch – zumindest dann, wenn Probleme auftreten. Bei Erfolg wird die Führung gelobt, bei Misserfolg der Mitarbeitende kritisiert. Die Verantwortung ist asymmetrisch verteilt: Freiheit in der Entscheidung, aber Schuld im Scheitern.
Batesons Double Bind: Die Theorie hinter der Praxis
Der britisch-amerikanische Anthropologe und Psychologe Gregory Bateson hat für dieses Phänomen bereits in den 1950er Jahren einen Begriff geprägt: die „Doppelbindung“ oder „Double Bind“. Bateson beschrieb damit ein paradox-kommunikatives Muster, bei dem eine Person mit widersprüchlichen Erwartungen konfrontiert wird, die gleichzeitig gelten sollen, ohne dass es eine klärende Metakommunikation gibt.
Die Elemente einer Doppelbindung sind:
- Zwei oder mehr einander widersprechende Botschaften
- Eine Beziehung, aus der man sich nicht entziehen kann (hier: das Arbeitsverhältnis)
- Die Unmöglichkeit, den Widerspruch anzusprechen oder aufzulösen
- Wiederholung des Musters, sodass es zur Erwartungsstruktur wird
Im beschriebenen Führungskontext manifestiert sich dies präzise: Mitarbeitende sollen im Sinne des Unternehmens entscheiden, bekommen aber keine klare Anleitung, wie das zu verstehen ist. Sie sollen Verantwortung übernehmen, können aber nicht gewinnen, weil bei Fehlern die Entscheidung als falsch bewertet wird – obwohl genau diese Entscheidungsfreiheit vermeintlich gewährt wurde.
Bateson erkannte in solchen Mustern eine Ursache für schwer lösbare psychosoziale Konflikte. In seiner ursprünglichen Forschung ging er sogar so weit, Doppelbindungen als möglichen Faktor in der Entstehung von Schizophrenie zu diskutieren – eine These, die zwar umstritten blieb, aber die destruktive Kraft dieser Kommunikationsform verdeutlicht.
Die Lose-Lose-Situation
Für die Betroffenen ist diese Situation eine echte „Lose-Lose“-Konstellation. Sie erzeugt chronische Unsicherheit, Verwirrung und letztlich Resignation. Mitarbeitende lernen: Egal, was ich tue, es kann falsch sein. Diese erlernte Hilflosigkeit führt zu verschiedenen Bewältigungsstrategien – alle mit hohen Kosten:
Manche verfallen in Hyperaktivität und endloses Rückversichern, was Entscheidungsprozesse lähmt. Andere entwickeln eine defensive Haltung, treffen nur noch Minimalentscheidungen und dokumentieren jeden Schritt akribisch. Wieder andere ziehen sich innerlich zurück, leisten „Dienst nach Vorschrift“ und verzichten auf jede Initiative. Das kreative, engagierte, „unternehmerische“ Denken, das die Führung angeblich fördern wollte, stirbt in diesem Klima.
Die Funktion des Nebels
Warum aber praktizieren so viele Führungskräfte diese Form der vagen Erwartung? Oft nicht aus Bösartigkeit, sondern aus einer Mischung von Überforderung, falscher Führungsphilosophie und – manchmal – strategischer Absicht.
Die Überforderung entsteht, wenn Führungskräfte selbst keine Klarheit haben, weil Strategie und Prioritäten von oben unklar sind. Sie geben den Nebel nach unten weiter. Die falsche Philosophie speist sich aus einem Missverständnis moderner Führung: Eigenverantwortung wird mit Orientierungslosigkeit verwechselt, Empowerment mit Delegation von Unsicherheit.
Und dann gibt es jene Fälle, in denen die Vagheit durchaus Funktion hat: Sie ermöglicht es der Führung, sich alle Optionen offenzuhalten, nachträglich zu bewerten und im Zweifel die Verantwortung abzuschieben. Der Nebel schützt die Führung, während er die Mitarbeitenden entblößt.
Wege aus der Doppelbindung
Wie lässt sich diese Falle vermeiden oder auflösen? Batesons Theorie selbst weist den Weg: durch Metakommunikation. Das Paradox muss benennbar werden. Organisationen brauchen:
- Klare Prinzipien statt vager Erwartungen. „Im Sinne des Unternehmens“ muss konkret werden: Was sind die tatsächlichen Werte? Was gilt im Konfliktfall? Welche Prioritäten gelten wirklich?
- Definierte Handlungsspielräume. Eigenverantwortung braucht Rahmen: Wo darf ich entscheiden, wo muss ich rückfragen, wo liegt die Grenze?
- Fehlerkultur statt Schuldkultur. Wenn Eigenverantwortung gewünscht ist, müssen Fehler als Lernchancen behandelt werden – ohne nachträgliche Schuldzuweisung.
- Reflexionsräume. Wenn Mitarbeitende das Gefühl haben, in einer Doppelbindung zu stecken, muss es möglich sein, dies anzusprechen, ohne sanktioniert zu werden.
Die Alternative zur Führung durch vage Erwartungen ist nicht die Rückkehr zum autoritären Mikromanagement. Es ist vielmehr eine Führung, die Klarheit schafft und gleichzeitig Raum lässt – die Orientierung gibt, ohne zu gängeln. Eine Führung, die versteht: Wer Menschen wirklich ermächtigen will, muss ihnen nicht nur Verantwortung geben, sondern auch die Werkzeuge, diese zu tragen.
Die Doppelbindung in der modernen Arbeitswelt ist kein Schicksal, sondern ein Symptom mangelnder Führungskultur. Bateson hat uns vor Jahrzehnten gezeigt, wie destruktiv paradoxe Kommunikation sein kann. Es wäre an der Zeit, diese Lektion endlich ernst zu nehmen.

