ADAMOS ist gescheitert, Gaia-X faktisch tot, Catena-X kämpft ums Überleben, Tapio dümpelt vor sich hin, die IDSA kommt nicht vom Fleck. Das systematische Scheitern deutscher Digital-Ökosysteme offenbart ein fundamentales Problem: Deutsche Unternehmen verstehen die Logik vernetzter Wertschöpfung nicht. Statt kooperativer Netzwerkeffekte dominiert hierarchisches Denken, statt kollektiver Intelligenz das Durchsetzen von Partikularinteressen. Die Unfähigkeit reicht von Konzernen bis zu KMUs. Eine Analyse struktureller Blockaden.


Im März 2023 war Schluss: ADAMOS, die gemeinsame IoT-Plattform führender deutscher Maschinenbauer, stellte den Betrieb ein. Nach 60 bis 70 Millionen Euro Startinvestitionen, 200 bis 300 Mitarbeitern und vollmundigen Ankündigungen blieb als offizielle Begründung nur der lapidare Verweis auf „die Krisen der vergangenen Jahre und die zögerliche Entwicklung digitaler Industrie-Marktplätze“.

Krisen als Ausrede für Inkompetenz – diese Erklärung ist so bequem wie verlogen. Während ADAMOS scheiterte, wuchsen andere Plattform-Ökosysteme trotz oder gerade wegen der Krisen. Das Problem war nicht die Umwelt. Das Problem war das Modell.

Gaia-X folgte: 2019 als „europäischer Moonshot in der Digitalpolitik“ ausgerufen, von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier persönlich lanciert, sollte das Projekt eine europäische Cloud-Alternative zu den amerikanischen Hyperscalern schaffen. 2025 ist das Urteil des Nextcloud-Gründers Frank Karlitschek unmissverständlich: „Gaia-X ist tot.“ Vom ursprünglichen Ziel einer europäischen Cloud-Alternative sei „heute nicht mehr die Rede“. Es gebe „keinen Marktplatz und keine Referenzimplementierungen mehr, sondern nur noch irgendwelche Datenspezifikationen“, die „niemanden mehr interessieren“.

Catena-X, das 108 Millionen Euro Bundesförderung erhielt und als „industriepolitisches Leuchtturmprojekt für die Digitalisierung von Lieferketten“ vermarktet wurde, kämpft mit „Unsicherheit über den konkreten Nutzen“. Nur 100 Unternehmen haben die Nutzungsbedingungen unterschrieben, nur 35 Anwendungen greifen auf den Standard zu. Eine BearingPoint-Umfrage attestiert einen „schweren Start“.

Drei Großprojekte, Hunderte Millionen Euro, Hunderte hochqualifizierte Mitarbeiter – und doch das gleiche Muster des Scheiterns. Das ist kein Zufall. Das ist System.

Die Logik des Ökosystems – fundamental missverstanden

Das Problem beginnt beim Grundverständnis. Deutsche Unternehmen, geprägt von jahrzehntelangem Erfolg in hierarchisch organisierten Wertschöpfungsketten, begreifen nicht, dass digitale Ökosysteme nach völlig anderen Prinzipien funktionieren. Sie verwechseln Kooperation mit Kartell, Plattform mit Umverteilungsmaschine, Netzwerkeffekte mit Subventionierung.

Bei ADAMOS positionierten sich die Partner stolz „auf Augenhöhe“ – DMG Mori, Dürr, Zeiss, die Software AG. Kein „großer übermächtiger Anbieter“ sollte „die Zügel allein in der Hand“ halten. Was als demokratisches Prinzip verkauft wurde, war in Wahrheit die Unfähigkeit, jemandem die Orchestrierung zu überlassen. Das Ergebnis: Fünf Alphahähne, die ihre jeweiligen Partikularinteressen durchsetzen wollten, während die Plattform daran erstickte.

Bei Gaia-X wurde die Absurdität noch offensichtlicher: Schon im ersten Jahr holte man die amerikanischen Hyperscaler Microsoft, Amazon und Google mit ins Boot und gab ihnen „eine aktive Rolle in den zentralen Arbeitsgruppen“. Der Gaia-X-Koordinator der Bundesregierung verteidigte dies: „Es macht keinen Sinn, die US-Konzerne auszuschließen.“ Das Resultat: „Die verbliebenen Mitglieder stehen sich mit ihren Eigeninteressen selbst im Weg.“

Man wollte eine Alternative zu den Hyperscalern schaffen – und lud sie zur Mitgestaltung ein. Man wollte europäische Datensouveränität – und ließ US-Konzerne die Standards definieren. Diese Naivität ist so erschreckend, dass sie fast schon wieder rührend wirkt.

Hierarchisches Denken gegen Netzwerklogik

Das Kernproblem ist struktureller Natur: Deutsche Unternehmenskultur ist hierarchisch sozialisiert. Entscheidungen werden top-down getroffen, Macht wird über Position definiert, Erfolg bemisst sich an der Kontrolle über Ressourcen. Diese Logik funktioniert in linearen Wertschöpfungsketten. Sie versagt total in Netzwerk-Ökosystemen.

In einem funktionierenden digitalen Ökosystem entsteht Wert durch Netzwerkeffekte – je mehr Teilnehmer, desto höher der Nutzen für alle. Das erfordert eine paradoxe Haltung: Man muss Kontrolle abgeben, um Einfluss zu gewinnen. Man muss anderen Erfolg ermöglichen, um selbst zu profitieren. Man muss in die Infrastruktur investieren, die alle nutzen können, auch Wettbewerber.

Deutsche Unternehmen schaffen das nicht. Sie denken in Nullsummenspielen: Was der andere gewinnt, verliere ich. Sie fürchten, „unter die Räder zu geraten“, wenn sie nicht selbst das Steuer in der Hand halten. Sie können nicht akzeptieren, dass der Orchestrator des Ökosystems eine Sonderstellung braucht – denn das würde ja Hierarchie bedeuten, die man gerade überwinden wollte.

Das Ergebnis: Governance-Modelle, die niemanden zufriedenstellen. Zu viele Stakeholder mit Vetorecht, endlose Abstimmungsschleifen, Kompromisse, die jeden Ansatz von klarer strategischer Ausrichtung verwässern. Man schafft Gremien statt Geschwindigkeit, Ausschüsse statt Agilität, Konsenspapiere statt konkreter Produkte.

Das Fehlen des Ökosystem-Orchestrators

Erfolgreiche Ökosysteme haben klare Orchestratoren: Amazon für AWS und den Marketplace, Apple für das iOS-Ökosystem, Alibaba für seinen E-Commerce-Kosmos. Diese Orchestratoren haben Macht – und nutzen sie. Sie setzen Standards durch, werfen Teilnehmer raus, die sich nicht an Regeln halten, investieren Milliarden in die Plattform-Infrastruktur, weil sie selbst massiv vom Erfolg profitieren.

ADAMOS warb damit, dass die Software AG „nie ein Wettbewerber für den Maschinenbau sein wird“ – sie fungierte nur als „Technologielieferant“. Genau das war der Fehler. Ein Technologielieferant kann keine Plattform orchestrieren. Er kann Infrastruktur bereitstellen, aber er kann das Ökosystem nicht zum Leben erwecken, weil ihm die intrinsische Motivation fehlt und die Maschinenbauer ihm diese Macht auch nie gegeben hätten.

Deutsche Konsortien wollen die Vorteile der Orchestrierung, ohne jemandem die Macht dazu zu geben. Man will Standards setzen, ohne jemanden zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Man will skalieren, ohne zu zentralisieren. Das ist der Versuch, ein Orchester ohne Dirigent zu führen – jeder spielt sein Instrument, aber niemand hört auf den anderen.

Die Illusion der Gleichberechtigung

Besonders perfide ist die Rhetorik der „Gleichberechtigung“ und „Fairness“, mit der diese Projekte scheitern. Bei Gaia-X sollten „gemeinsame Regeln und Standards“ gelten, die „Interoperabilität, Transparenz und Kompatibilität“ garantieren – als ob allein die Existenz von Standards schon Erfolg bedeuten würde. Standards ohne Adoption sind Totgeburten. Governance ohne Durchsetzungsmacht ist Folklore.

Die Wahrheit ist: Funktionierende Ökosysteme sind nicht egalitär. Sie haben asymmetrische Machtstrukturen. Der Plattformbetreiber hat mehr Macht als die Komplementäre. Große Teilnehmer haben mehr Einfluss als kleine. Erfolgreiche Akteure werden bevorzugt. Das ist nicht unfair – das ist die Ökosystem-Logik. Wer das nicht akzeptieren kann, sollte keine Plattformen bauen.

Deutsche Unternehmen können das nicht akzeptieren. Sie sind gefangen in einer Gleichheitsillusion, die letztlich dazu führt, dass niemand gewinnt. Statt dominanter Ökosysteme entstehen lahme Kompromissgebilde, die von niemandem ernsthaft genutzt werden.

Das KMU-Problem: Blockade in der Breite

Die Unfähigkeit beschränkt sich nicht auf Großkonzerne und staatlich geförderte Prestigeprojekte. Sie reicht tiefer – bis in die mittelständischen Strukturen, die angeblich das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bilden.

Die International Data Spaces Association (IDSA), konzipiert als dezentrale Dateninfrastruktur für die Industrie, kommt nicht vom Fleck. Der Grund ist derselbe wie bei ihrer großen Schwester Gaia-X: Selbst KMUs sind nicht bereit zu kooperieren und Daten mit Dritten auszutauschen. Die Angst vor Kontrollverlust, vor dem Abfluss von Wettbewerbsvorteilen, vor der Transparenz, die echte Vernetzung erfordert, blockiert jede Initiative.

Dasselbe Muster zeigt sich beim Thema Künstliche Intelligenz. KMUs gehen mit ihrer bewährten Mentalität an das Thema heran: Sie sehen in KI eine Art Plug-&-Play-Werkzeug, das sie bei ihrer täglichen Arbeit unterstützen soll, während sonst alles beim Alten bleibt. Man will die Effizienzgewinne, ohne die Transformation zu vollziehen. Man interpretiert KI als Optimierungsinstrument für bestehende Prozesse, nicht als transformative Technologie, die Arbeitsweisen, Geschäftsmodelle und Organisationsstrukturen fundamental verändert.

Die Plug-&-Play-Illusion ist strukturell identisch mit dem Plattform-Missverständnis: Man glaubt, man könne neue Technologie in alte Strukturen einbauen wie eine Maschine in die Produktionshalle. Man will die Vorteile ohne die Konsequenzen. Man will Innovation ohne Disruption der eigenen Organisation.

Das offenbart die ganze Tragweite des Problems: Es ist nicht nur eine Frage von Managementfehlern in Großkonzernen oder politischen Fehlsteuerungen. Es ist ein kulturelles Muster, das die gesamte deutsche Unternehmenslandschaft durchzieht. Vom DAX-Konzern bis zum Familienbetrieb regiert dasselbe Misstrauen, dieselbe Unfähigkeit, die Logik digitaler Transformation zu verstehen. Ob Plattformen, Datenökosysteme oder Künstliche Intelligenz – immer wird die neue Technologie als Werkzeug missinterpretiert, das man in bestehende Strukturen integrieren kann, statt zu erkennen, dass sie die Strukturen selbst verändern muss.

Möglicherweise könnte das Modell der Datengenossenschaft Abhilfe schaffen – eine Organisationsform, die der deutschen Wirtschaftskultur mit ihrer Tradition der Genossenschaften näher liegt als das angelsächsische Plattform-Modell. Aber auch hier gilt: Solange das grundlegende konzeptionelle Verständnis fehlt, wird auch die Rechtsform nicht retten, was an der Mentalität scheitert.

Die volkswirtschaftlichen Folgen

Die Kosten dieses strukturellen Versagens sind immens. Allein für Catena-X flossen 108 Millionen Euro Bundesförderung in ein Projekt, das kaum Akzeptanz findet. Die deutschen Automobilhersteller bilden jährlich 1,4 bis 1,8 Milliarden Euro Rücklagen für Rückrufaktionen – Kosten, die durch funktionierendes Datenökosystem-Management drastisch reduziert werden könnten.

Aber es geht um mehr als Geld. Es geht um strategische Position in der digitalen Transformation. Während deutsche Unternehmen Jahre damit verschwenden, dysfunktionale Konsortien zu managen, bauen andere funktionierende Ökosysteme auf. Die Hyperscaler gewinnen noch mehr Marktmacht. Chinesische Plattformen wachsen ungehemmt. Europäische digitale Souveränität bleibt Wunschdenken.

Das Tragische ist: Die Ressourcen wären da. Die technische Kompetenz auch. Was fehlt, ist das konzeptionelle Verständnis für die Funktionslogik digitaler Ökosysteme. Und dieses Verständnis kann nicht durch noch mehr Fördermittel, noch mehr Konsortialpartner oder noch mehr Governance-Strukturen ersetzt werden.

Das Versagen der Betriebswirtschaftslehre

Hier zeigt sich auch das Versagen der deutschen Betriebswirtschaftslehre. Sie hätte die theoretischen Grundlagen liefern müssen, um zu verstehen, warum Ökosysteme anders funktionieren als Unternehmen. Sie hätte erklären müssen, warum Netzwerkeffekte asymmetrische Strukturen erzeugen. Sie hätte Instrumente entwickeln müssen, um die ökonomische Logik von Plattformen zu erfassen.

Stattdessen blieb sie in ihren klassischen Kategorien gefangen: Hierarchien, Wertschöpfungsketten, Principal-Agent-Probleme. Die Folge: Manager deutscher Unternehmen haben keine mentalen Modelle für das, was sie versuchen aufzubauen. Sie versuchen, Netzwerke mit den Werkzeugen der Hierarchie zu managen. Das kann nicht funktionieren.

Die Logik des Scheiterns

ADAMOS, Gaia-X, Catena-X, IDSA, Tapio – sie alle sind nicht an technischen Problemen gescheitert. Sie scheitern an konzeptionellen. Sie zeigen, dass Deutschland zwar exzellente Ingenieure, aber keine Ökosystem-Architekten hat. Sie beweisen, dass hierarchisches Denken nicht einfach abgelegt werden kann, wenn man beschließt, jetzt eine Plattform zu bauen.

Bis deutsche Unternehmen diese fundamentale Transformation vollziehen – vom hierarchischen Denken zum Netzwerk-Verständnis, vom Kontrollzwang zur Orchestrierungskunst, vom Partikularinteresse zur Ökosystem-Perspektive – werden sie weiter Hunderte Millionen in Projekte versenken, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind.

Das ist keine Prognose. Das ist die logische Konsequenz struktureller Unfähigkeit. Und diese Unfähigkeit ist umso gravierender, als sie sich durch alle Unternehmensgrößen und Organisationsformen zieht – vom multinationalen Konzern bis zum mittelständischen Zulieferer. Was als Stärke der deutschen Wirtschaft galt – die hierarchische Präzision, die Kontrolle über komplexe Wertschöpfungsketten – erweist sich im Zeitalter digitaler Ökosysteme als systemische Schwäche.