Das Dilemma komplexer Entscheidungssituationen, wie sie in Wirtschaft und Politik inzwischen eher die Regel als die Ausnahme sind, ist Thema von Luhmanns Aufsatz Zur Komplexität von Entscheidungssituationen.

So schreibt er:

Eine Entscheidungssituation wird komplexer, wenn die Zahl der Alternativen zunimmt; sie wird auch komplexer, wenn die Verschiedenartigkeit der Alternativen zunimmt oder wenn die Interdependenzen unter ihnen zunehmen, so dass man sie nicht mehr stückweise abarbeiten kann.

Eine an sich nicht sonderlich aufregende Erkenntnis, nur wird sie beim Homo Oeconomicus nicht genügend berücksichtigt. Dort nämlich ist die implizite Annahme, dass der Entscheidungsträger sich der Verschiedenartigkeit und der Abhängigkeiten der Alternativen bewusst ist, sie also überblicken kann – ein Ding der Unmöglichkeit.

Daher ist es auch nicht allzu verwunderlich, wenn Luhmann dem herkömmlichen Begriff der Rationalität kritisch gegenübersteht:

Rationalität ist demnach nicht einfach durch das »erste Prinzip praktischer Vernunft«, die Gutheit bzw. den Wert des Zwecks, garantiert. Sie liegt auch nicht in der einfachen Relation von Zweck und Mittel. Sie besteht weder allein in der Maximierung der besonderen Wertrichtung des Zwecks (z.B. in der maximalen Ausbeutung von Ressourcen, größtmöglicher Ernte usw.) noch in der Optimierung der Relation von Mittel und Zweck (oder Aufwand und Ertrag). Für eine abstrakter ansetzende Entscheidungstheorie, die vom allgemeineren Begriff der Entscheidungsbeschränkungen (constraints) ausgeht, wird es zweitrangig, welche Beschränkungen als Zwecke und welche als Mittel fungieren, obwohl der Unterschied seine Funktion behält (hierzu Simon 1964). Zugleich wird der Begriff der Rationalität aus der Relation von Zweck und Mittel in die Relation zwischen möglichen Relationen zwischen Zweck und Mittel verlagert. Jene erste Relation wird nochmals relationiert, und dafür müssen jetzt Kriterien angegeben werden. Dieser Relationierung von Zweck/Mittel-Relationen hatte zunächst das Prinzip der Optimierung gedient. Es blieb jedoch gebunden an die Vorgabe von Beschränkungen in der Form von Zwecken und Mitteln und konnte nicht die Beschränkungen selbst als variabel postulieren. Das geschieht mit Hilfe der Begriffe Kontingenz und Komplexität. Andererseits geht es nicht an, nun die Kontingenz selbst oder gar Beliebigkeit für rational zu erklären.19 Sie ist nur eine Bedingung für Rationalität und verdient den Titel der Rationalität nur, sofern sie genutzt wird, um Entscheidungsbeschränkungen in den Entscheidungsprozessen einzuführen.

Das ist nun – wie bei Luhmann nicht anders zu erwarten – sehr abstrakt formuliert. Sofern ich ihn richtig verstanden habe, bemängelt er an den üblichen Entscheidungstheorien deren Verengung auf eine bestimmte Zweck-Mittel-Relation, ohne weitere in Betracht zu ziehen und sich die Beschränkungen, die zu einer bestimmten Zweck-Mittel-Relation geführt haben, bewusst zu machen. Damit geraten weitere Alternativen aus dem Blickfeld, d.h. die blinden Flecken bleiben unerkannt – die Komplexität und die situative Bedingtheit fallen unter den Tisch.

Häufig entscheidet ein Individuum, wenn es mit diesem Dilemma konfrontiert wird, impulsiv, d.h. ohne weitere Überlegung.

Eine adäquate Entscheidungstheorie hat daher bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen:

Sie muss sagen können, unter welchen Bedingungen rationales Entscheiden möglich bzw. wahrscheinlich ist; und das ist leichter, wenn man sich überlegt, unter welchen Umständen eine (vorauszusetzende, weil vorteilhafte) Tendenz zur Rationalität abgebrochen und in impulsives Entscheiden umgebogen wird. Sieht man Rationalität als Nutzenmaximierung, ist es schwierig, darauf eine Antwort zu geben; denn warum sollte ein Entscheider auf die Verfolgung seiner Werte verzichten? Genau hier liegen aber die empirischen Schwierigkeiten jeder Entscheidungstheorie, die von Nutzenmaximierung, Nachteilsminimierung oder sonstigen Richtigkeitskonzepten ausgeht; sie scheitert in dem Maße, als impulsives Entscheiden häufig ist.

Damit erneuert Luhmann seine Kritik an dem stets nutzenmaximierenden Entscheidungsträger, dem Homo Oecnomicus.

Um mit Entscheidungssituationen erhöhter Komplexität besser umgehen zu können, sollten dem Entscheider entsprechende Techniken zur Verfügung gestellt werden:

Von solchen Techniken wird es dann abhängen, ob ein Entscheider sich Situationsdefinitionen mit höherer Komplexität leisten kann und ob er deren Komplexität mehr auf der Dimension der bloßen Zahl von Alternativen oder auch in der Verschiedenartigkeit oder gar in Richtung auf höhere Interdependenzen steigern kann.

Eine weiteres Kalkül für den Entscheidungsträger könnte sein:

Kann man darüber entscheiden, ob man »Komplexität reduziert« oder lieber nicht reduziert, ob man sich Möglichkeiten offen hält oder ob man besser fährt, wenn man rechtzeitig so entscheidet, dass man nachher keine anderen Möglichkeiten mehr hat?

Hier bestehen Parallelen zu den Forschungen von Gerd Gigerenzer und den Fast and Frugal Heuristics.

Weiterhin interessant ist, wie Luhamnn die Rolle der Reflexivität während des Entscheidungsprozesses definiert, indem er den Begriff der Prozessreflexivität einführt:

Das alles setzt Reflexivität voraus, nämlich die Möglichkeit, den Entscheidungsprozess auf sich selbst zu beziehen. Die meisten Entscheidungstheorien setzen diese Möglichkeit als Bestandteil des Entscheidungsbewusstseins stillschweigend voraus, ohne sie zu problematisieren. Tatsächlich macht jedoch das bloße Entscheidungsbewusstsein als ein Wissen um Wahlfreiheit und Wahlvollzug einen Entscheidungsprozess noch nicht reflexiv. Bewusstsein des Entscheidens ist noch nicht Entscheiden über Entscheiden, so wenig wie Bewusstsein des Forschens Forschen über Forschung ist. Prozessreflexivität entsteht nur, wenn ein Prozess funktional spezifiziert und mit seinem eigenen Funktionstypus auf sich selbst angewandt wird. Das setzt doppelstufige Kontingenz voraus, indem das Entscheiden selbst nochmals als ganzes oder in seinen Prämis- sen oder in seinen Phasen zum Entscheidungsthema wird. Dezisionisten, die das Entscheiden bloß lieben oder bloß wollen, verfehlen diese anspruchsvolle Struktur der Reflexivität mitsamt den von ihr abhängigen Formen der Selektivitätsverstärkung.

Das grenzt schon an Hirnakrobatik und man beginnt zu verstehen warum es auch heisst: „Luhmann lesen ist wie Techno hören.“ 😉

Die Frage ist nur: Wie weit kann man die Abstraktion treiben, ohne die Orientierung zu verlieren?

Etwas klarer drückt er sich einige Zeilen später aus:

Nur bei hoher Komplexität der Entscheidungsmöglichkeiten wird das Entscheiden selbst zum Problem, weil dann die richtige Entscheidung nicht ohne weiteres sichtbar ist und zudem davon abhängt, wie die Komplexität reduziert wird. Dann drängt es sich auf, ganz oder zumindest partiell auch über das Entscheiden noch zu entscheiden, um dadurch den Entscheidungsprozess ohne Festlegung des Ergebnisses (das heißt: ohne ihn dadurch schon zu beenden) vorzustrukturieren.

Ähnlich wie Luhmann haben sich dazu auch Schoemaker und Russo geäußert.

Die eigentliche, spannende Frage lautet für Luhmann:

Eignet sich Komplexität theoretisch überhaupt zur Entscheidungsprognose? Ist, mit anderen Worten, zu erwarten, dass komplexere Entscheidungsprozesse tendenziell zu anderen Entscheidungen führen als weniger komplexe? Wird jemand, der einen komplexeren Berufswahlprozess durchläuft, systematisch in andere Berufe gelenkt als Bewerber mit einfacherer Orientierung? Kauft jemand, der komplexer entscheidet, andere Wagen? Und dies, weil er komplexer entscheidet? Oder braucht umgekehrt jemand, der sich einen Mercedes leisten kann, gar nicht mehr komplex zu entscheiden?

Damit wären wir wieder am Ausgangspunkt. Sind die Resultate komplexer Entscheidungsprozesse  so viel besser, dass sie den Aufwand rechtfertigen, indem sie verborgene Zusammenhänge sichtbar machen und damit unnötige Risiken vermeiden helfen oder ungeahnte Chancen an die Oberfläche bringen? Oder dreht man sich damit häufig nur im Kreis, um dann zu derselben Entscheidung zu gelangen, die man nach kurzer Beratung oder aus dem Bauch heraus getroffen hätte?

Das hängt davon ab …