Er selbst kannte den Mechanismus seines Geistes genau und erklärte, daß die verschiedenen Angelegenheiten in seinem Kopf fachweise wie in einem Schrank geordnet seien. „Wenn ich eine Sache unterbrechen will, schließe ich ihr Fach und öffne das einer anderen. Sie geraten nie durcheinander, sie verwirren mich weder, noch ermüdet mich ihre Vielfalt. Wenn ich schlafen will, schließe ich sämtliche Fächer und schlafe ein.” Sobald er erwachte, versuchte er erst gar nicht, wieder einzuschlafen, sondern erhob sich sofort, um sich mit einer Angelegenheit, die gerade vorlag, zu beschäftigen. „Gestern stand ich um zwei Uhr nachts auf, legte mich neben das Kaminfeuer auf mein Sofa, prüfte die Situations- berichte, die mir der Kriegsminister am Abend übergeben hatte, entdeckte zwanzig Fehler und machte Notizen darüber. Jetzt ist der Minister mit seinen Beamten bereits mit der Verbesserung der Irrtümer beschäftigt.” Wenn es ihm nötig erschien, dehnte er Konferenzen und Sitzungen bis in die Morgenstunden aus. Mehr als einmal schliefen die Staatsräte und Minister ein; sie wurden von Napoleon erbarmungslos wachgerüttelt: „Bleiben wir wach, meine Herren, es ist erst zwei Uhr! Wir müssen unsere Gehälter verdienen!” Das Reisen veränderte die Form der Aktivität, aber unterbrach sie nicht. Ein wohldurchdachtes System von Relais, Vorspannen und Ablösungen ermöglichte ihm höchste Geschwindigkeiten. Sein Reisewagen war so raffiniert eingerichtet, daß er in ihm schlafen und arbeiten konnte. So gelangte er in fünf Tagen von Dresden nach Paris, ohne daß seine Regierungsgeschäfte während dieser Zeit ins Stocken gerieten. Der berühmte Kunsttischler Jacob hatte ihm mehrere mit Molton gefütterte Kästen aus Mahagoni angefertigt, in denen er seine Akten, Briefe und seine kleine Reisebibliothek aufbewahrte. Kunstvoll war auch der kleine, aber sehr feste Tisch, der aus der Wagenwand herausgeklappt wurde. Er durfte nicht wackeln oder schwanken, denn Napoleon breitete seine Karten auf ihm aus und besteckte sie mit bunten Nadeln, die er aus einer roten Samtkugel herauszog. Im Notfall mußte ein Adjutant oder sonstiger Begleiter, manchmal Berthier selbst, auf diesem Tisch nach Diktat schreiben, damit die Befehle an der nächsten Umspannstation ausgetragen werden konnten. Der dahinrasende Wagen, der den Staub der spanischen Landstraßen oder den Schlamm der ostpreußischen Wege aufwarf, war stets von einem Schwarm von Ordonnanzen, Leibjägern und Kurieren umgeben, denen er fertige Schriftstücke, die sofort besorgt werden mußten, hinausreichte. Was er im Wagen nicht mehr brauchen konnte, flog zum Fenster hinaus, nicht nur die Knochen eilig verzehrter Brathühner, sondern auch leere Umschläge, Aktendeckel, die Schnitzel sorgfältig zerrissener Rapporte, erledigte Zeitungen und schließlich sogar die Bücher, die er nicht weiterlesen wollte oder die ihm der Aufbewahrung nicht wert erschienen. Er las in jeder freien Minute; sein Bibliothekar Barbier packte stets die Neuerscheinungen, die den Kaiser interessieren konnten, mit in die Mahagonikästen. Seine Lektüre war vom Augenblick und den Umständen ganz unabhängig. Auf dem Wege von Schönbrunn nach Wagram las er die „Historischen Denkwürdigkeiten” des Schauspielers Dazincourt, um die Lektüre nach gewonnener Schlacht fortzusetzen. Er schrieb selten und mit abgekürzten Schriftzügen, deren ungeduldige Verschlingungen nur von genauen Kennern entziffert werden konnten. Sein Element war das Sprechen, er hegte eine wahre Leidenschaft für den Vortrag seiner Gedanken und genoß erbarmungslos das Privileg seines hohen Ranges, daß niemand ihm ins Wort fallen durfte. Trotzdem konnte es ihm während der juristischen Diskussionen im Staatsrat geschehen, daß er von einem Mitarbeiter bis zu dreimal unterbrochen wurde. Er war dann so verblüfft, daß er den Faden verlor und dem Unterbrecher fast bescheiden sagte: „Herr, ich bin noch nicht zu Ende, bitte, lassen Sie mich ausreden. Schließlich hat hier doch jeder das Recht, seine Meinung zu sagen!”

Quelle: Friedrich Sieburg: Napoleon