Von Ralf Keuper 

Der o.g. Beitrag (ZfP 1/1997) von Hans J. Pongartz und G. Günter Voß aus dem Jahre 1997 setzt sich kritisch mit dem seinerzeit aufkommenden Management-Paradigma der Selbstorganisation auseinander. Viele der in dem Beitrag gestellten Diagnosen und Fragen haben m.E. an Gültigkeit kaum verloren, weshalb anschließend einige Kernaussagen vorgestellt werden:

Selbstorganisationsprozesse im Konflikt – oder der Widerspruch unterschiedlicher Ebenen der Selbststeuerung

… Angesichts der stereotypen Rhetorik der Selbstorganisation in Managementkonzepten verdient der wiederholt von seiten der Industriesoziologie geäußerte Ideologieverdacht erneute Aufmerksamkeit. Diese Rhetorik belebt nämlich ein allzu bekanntes Versprechen wieder, die Versöhnung von betrieblichen und individuellen Interessen von Produktivität und Humanität auf einer neuen Stufe – die Mitarbeiter dürfen sich selbst entfalten zum Wohle des Betriebs – durch Selbständigkeit und Eigenverantwortung entwickeln sie mehr Freude, Interesse, Sinn an der Arbeit, bauen Produktivitätshemmnisse individueller und sozialer Art aus eigener Initiative ab und steigern damit die Unternehmensleistung. Die vorangegangenen Überlegungen bestärken den Verdacht, dass solche Phasen einer Verschleierung der realen Machtverhältnisse dienen. Sie haben legitimatorische Funktion für eine Welle von Reorganisationsmaßnahmen, deren Ziel ganz konventionell in der Aufrechterhaltung bzw. Ausweitung betriebliche Herrschaft liegt, deren mögliche Konsequenzen aber auch die initiierenden Manager und Berater kaum übersehen. …
Die Dynamik dieses Prozesses zwischen Management und Belegschaft gewinnt aber als Folge der Auflösung starrer Organisationsstrukturen und der Etablierung flexibler Koordinationsmechanismen (Elementen der Selbstorganisation) eine neue Qualität: eine für alle Beteiligten bisher ungekannte Unsicherheit der Folgen des eigenen Handelns. Gegenüber der Eigendynamik von Selbstorganisationsprozessen verlieren bisherige Managementstrategien zur Etablierung von Sicherheit an Wirkung. Nicht die Fähigkeit, Unsicherheit zu überwinden, sondern in und mit Ungewißheit handlungsfähig zu bleiben, wird zur zentralen Aufforderung.

Unsicherheit – der neue Faktor im alten Management-Spiel

Als Indiz für die wachsende Unsicherheit auch höchster Managementebenen angesichts dieser neuartigen Herausforderungen kann die anhaltende Nachfrage nach Unternehmensberatern und Managementkonzepten gelten. Insbesondere unpopuläre Maßnahmen lassen sich mit Hilfe externer Berater mit geringem Risiko durchführen – die Unternehmensleitung kann erste Ergebnisse abwarten und sich bei Bedarf distanzieren. Schnelllebigkeit und Kurzatmigkeit der jeweils neuesten Managementkonzepte sind nicht nur auf die Marketing-Strategien der Unternehemensberater zurückzuführen, sondern auch auf den übermäßigen Verschleiß an Ideen in den Unternehmen – für gründliche Analysen und organische Entwicklungsprozesse bleibt kaum Zeit. Zu denken geben sollte schließlich die übersteigerte Rhetorik der Managementkonzepte – z.B. die Rede von “Unternehmensrevolutionen”, “postherorischem Management”. Selbstorganisation erfordert eine Führung, die Gefühle der Verunsicherung aushält und Neugier daraus entwickelt. Die Bewältigung von Ungewißheit ist wesentlich ein kommunikativer Prozess, in welchem das Gespräch über Verunsicherungen Offenheit und Vertrauen erfordert. Zugleich wird angesichts verschärfter Interessenauseinandersetzungen ein klares Bewußtsein für Machtprozesse und -strategien verlangt. Der selbstbewußte Zweifel und ein reflektierter Skeptizismus könnten sich als Grundhaltungen für eine solche Form von Management eigenen. …

Selbstorganisation und reflexiive Modernisierung – zur gesellschaftlichen Einbindung betrieblicher Strategien

Die vom Management verordnete Selbstorganisation scheint also, zusammenfassend betrachtet, ihre Tücken zu haben. Sie weist in sich zahlreiche Widersprüche auf und kann für die Beteiligten negative ebenso wie positive Folgen zeitigen. Vor allem aber bleibt Selbstorganisation als Organisationsstrategie eingebunden in den Interessengegensatz von betrieblicher Kontrolle und individuellem Autonomieanspruch der Arbeitskräfte. Sie schafft neue Machtungleichgewichte und führt – entgegen einer verbreiteten harmonisierenden Rhetorik – zu anhaltend kontroversen Aushandlungsprozessen. Das Management, das bisher in der Vermittlung von Sicherheit eine wesentliche Legitimationsquelle besaß, wird vor ungewohnte Anforderungen gestellt: Selbstorganisation erfordert eine Steuerungshandeln, welches Unsicherheit zuläßt und reflektiert damit umgeht – eine Art “postheroischen Managements”, welches den selbstbewußten Zweifel und den reflektierten Skeptizismus kultiviert. … “

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