Dr. Matthias Wühle

Die Geschichte der ersten Zentralbank Deutschlands, der 1876 gegründeten Reichsbank, liefert nicht nur für Historiker reichlich Anschauungsmaterial für die Bewertung der gegenwärtigen Situation auf den Finanzmärkten. In dem Zeitraum von 1875-1914 durchlief die Reichsbank nahezu alle Phasen und Krisen, die für eine Notenbank typisch sind. Diesen für die Bankgeschichte Deutschlands so wichtigen Zeitabschnitt untersuchte Dr. Matthias Wühle (Foto) in seinem Buch Geld-und Währungspolitik der Reichsbank 1875-1914, das auf diesem Blog vor einigen Tagen besprochen wurde. Im Interview erläutert Wühle, der im Bereich Corporate Communications bei NewMark Finanzkommunikation in Frankfurt tätig ist, welche Lehren sich aus der Geschichte der Reichsbank und der ersten deutschen Einheitswährung mit Blick auf die aktuellen Themen, wie Digitale Währungen, ziehen lassen.

  • Herr Dr. Wühle, was hat Sie zu ihrer Untersuchung veranlasst – was macht den Zeitraum zwischen 1875-1914 aus bankhistorischer Sicht so interessant?

Die Untersuchung führte ich im Rahmen meines Magisterstudiums an der Uni Frankfurt am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte bei Prof. Dr. Werner Plumpe durch. Ursprünglich wollte ich lediglich herausfinden, wie erfolgreich die Diskontzinspolitik der Reichsbank gewesen ist; denn die Idee, durch Leitzinsänderungen Wirtschaftspolitik zu betreiben, hat an Aktualität und Bedeutung bis heute nichts verloren. Im Laufe meiner Studien merkte ich dann erst, wie facettenreich das Thema Geldverfassung zu diesem Zeitpunkt gewesen ist – und dass die Zinspolitik eigentlich nur einen unbedeutenden Teil der währungspolitischen Diskussion ausgemacht hat.

  • Was waren für Sie die wichtigsten Erkenntnisse – gab es überraschende Momente?

Überraschende Momente gab es viele. Die Einführung der Banknoten zu 20 und 50 Mark im Jahr 1906 musste beispielsweise durch Überwindung hoher Widerstände durchgesetzt werden, vor allem von Seiten der Wirtschaft. Auch die Hintergründe dieser Banknotenreform überraschten. So klagte die Reichsbank nach der Jahrhundertwende über verstärkten Goldabfluss. Dem begegnete die Reichsbank üblicherweise mit einer Anhebung des Diskontsatzes, um einen Anreiz für Kapitalimporte zu schaffen. Doch dieser Mechanismus schien um 1905 ausgehebelt. Gleichzeitig versuchte die Reichsbank die noch kursierenden Silbertaler außer Kurs zu setzen, was auf die Silberpreise drückte und den für Gold ansteigen ließ. Zwischen 1905 und 1907 klagte die Wirtschaft über einen Diskontzins von bis zu 6,03 Prozent. Erst die Emission von Banknoten von 20 und 50 Mark ließen die Goldmünzen wieder in den Geldkreislauf zurückkehren und der Zins sank wieder auf ein erträgliches Maß. Zuvor galten ausschließlich Banknoten über 100 Mark als gedeckt. Für den kleinen Zahlungsverkehr verließ man sich bis dahin auf Kurantmünzen – und auf sogenannte Reichskassenscheine, die eine umlaufende Staatsschuld darstellten und offiziell als nicht gedeckt galten. Dieses Geld-Provisorium erwies sich jedoch als außerordentlich robust, da deren Emission auf die Bevölkerungszahl beschränkt war – und somit knapp gehalten wurde.

  • Welche Parallelen zur heutigen Situation gibt es?

Eine interessante Parallele sehe ich in der Diskussion über den Sinn oder Unsinn von Bargeld bzw. dessen Abschaffung, beziehungsweise in der Frage der Währungsdeckung durch Edelmetall. Infolge des wirtschaftlichen Aufschwungs stieg die Nachfrage nach Geld gegen Ende des 19. Jahrhunderts an, der die Reichsbank nicht ausreichend nachkommen konnte, da deren Möglichkeiten infolge der Golddeckung sehr beschränkt waren. Zwar gab es mit der Palmer-Regel bereits eine Hintertür aus einem allzu engen Golddeckungs-Korsett, doch reichten auch diese Spielräume irgendwann nicht mehr aus. Die Handelskammern setzten sich schon früh für eine Einführung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs ein. Aber erst nach zähem Ringen trat 1908 das erste Scheckgesetz in Kraft, was im Prinzip bereits jene Vergrößerung der Geldmenge darstellte, die auch heute noch von Kritikern abfällig mit „Fiat Money“ bezeichnet wird. Tatsächlich sind sich Wirtschaftshistoriker darin einig, dass in der Geburtsstunde des Girokontos einer der wichtigsten Weichenstellungen für den darauf folgenden Wirtschaftsaufschwung zu suchen ist.

  • Seit einiger Zeit wird das Für und Wider digitaler Währungen, wie Bitcoin, diskutiert. Die Zentralbanken tun sich mit einer eindeutigen Aussage schwer – ist das ein gutes oder eher schlechtes Zeichen?

Ich sehe das als ein Zeichen einer gesunden Skepsis. Die sicher auch notwendige Offenheit gegenüber Innovationen darf nicht dazu verleiten, sich pauschal allen Einflüssen zu öffnen. Zu groß ist die Verantwortung von Zentralbanken, über die Währungsstabilität zu wachen und gleichzeitig die Wirtschaft in Schwung zu halten. Zudem sehen die Zentralbanken in den Kryptowährungen zu recht Konkurrenten und fürchten damit Kontrollverlust. Übrigens war mit der Einführung des Buchgeldes 1908 tatsächlich auch ein Kontrollverlust der Reichsbank verbunden, da infolge des aufkommenden Giralgeldes der Bedarf nach Bargeld zurückging. Banken waren damit von der Reichsbank weniger abhängig und verwässerten damit in gewisser Weise auch die Kontroll- und Steuermöglichkeiten der Reichsbank. Insofern ist also die Zurückhaltung der Notenbanken gegenüber Kryptowährungen gar nicht so unbegründet.

  • Eine Währung lebt von dem Vertrauen, das die Menschen darin setzen. Nur so konnte die Einführung des bargeldlosen Zahlungsverkehr durch die Reichsbank gelingen. Lässt sich dieser Befund auch auf die digitalen Währungen übertragen?

Zum Teil. Vertrauen ist eine wichtiges Kriterium für Währungen, das in der Vergangenheit schon viel seltsamere Währungssubstitute genossen haben, man denke dabei nur an amerikanische Zigaretten im Nachkriegsdeutschland. Vertrauen in die Staatswährung haben Regierungen schon oft missbraucht. Beispiele dafür sind die große Inflation, die nach dem ersten Weltkrieg die Bevölkerung traumatisierte und deren Folgen bis heute das Unterbewusstsein der deutschen Sparer prägt. Auch die Währungsreformen nach dem zweiten Weltkrieg und jene im Zuge der deutschen Wiedervereinigung stellten Enteignungen an Privatvermögen dar. Der Deutsche ist also in dieser Hinsicht ein mehrfach gebranntes Kind. Kryptowährungen mögen Einigen daher als die ultima ratio erscheinen, sich staatlichen Manipulationsversuchen zu entziehen. Ich bezweifle jedoch, dass das allein für eine digitale Währung schon ausreicht, um sich erfolgreich neben Nationalwährungen zu etablieren. Denn bei allen Bedenken: Die Geschichte der Reichsbank vor 1914 zeigt, dass man Währungspolitik auch sehr erfolgreich und umsichtig führen kann. Am Vorabend des ersten Weltkrieges galt die Mark als eine der erfolgreichsten und begehrtesten Währungen der Welt, aber das war sie nicht im luftleeren (oder digitalen) Raum, sondern weil sie ein Spiegelbild einer erfolgreichen Volkswirtschaft darstellte. Genau dieses Spiegelbild fehlt der Kryptowährung. Sie ist sozusagen der Vampir unter den Währungen. Und das macht sie anfällig für Spekulationen.

  • Die Reichsbank war für ihre Zeit, vor allem was die organisatorischen Aspekte betrifft, ausgesprochen modern. Was können heutige Zentralbanken und Geschäftsbanken daraus lernen?

Die Verantwortlichen der Reichsbank befanden sich streckenweise im Blindflug. Denn sie waren mit Problemen konfrontiert, die bis dahin einmalig waren. Es gab auch kaum Präzedenzfälle, auf die man hätte zurückgreifen können. Das gab ihr die große Verantwortung, bestimmte Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen zu tätigen. Zusätzlich mussten sich Reichsbank-Vertreter vor dem Reichstag, gegenüber den Handelskammern und gegenüber einer kritischen Medienöffentlichkeit verantworten. Die Entscheider in der Reichsbank stellten dabei ihren Pragmatismus unter Beweis. Ein Beispiel dafür sind die beiden Theorien Banking Theorie und Real Bills Doktrin. Die Vertreter beider Theorien standen sich unversöhnlich gegenüber. Die Reichsbank schaffte es, beide Theorien miteinander zu vereinen und mit der Palmer-Regel einen dritten Weg zu versuchen. Diese sah eine fünfprozentige Steuer auf ungedeckten Notenumlauf vor. Dies sollte sich als kluge Entscheidung erweisen, die neue Spielräume ermöglichte.

  • Welche Konsequenzen hätte die Verwirklichung einer bargeldlosen Gesellschaft – ist das ein Kontinuum oder ein Bruch?

Für die Wirtschaft ist der bargeldlose Verkehr ein wichtiges Kriterium, Güter- und Geldkreislauf mit möglichst geringen Kosten zu betreiben. Dies trieb zunächst im Kaiserreich das Wechselgeschäft voran, der Frühform des bargeldlosen Verkehrs. Allein im Zeitraum 1896 bis 1900 hatte sich das Wechselgeschäft im Vergleich zum Zeitraum 1876 bis 1880 nahezu verdoppelt. Anhaltendes Wirtschaftswachstum und eine deutliche Zunahme der internationalen Handelsaktivitäten führte letztendlich 1906 zu einer Liquiditätskrise, die die Problematik goldgedeckten Bargeldes vor Augen führte. Hier setzte die Reichsbank mit einer Reihe von Lösungen an. Eine davon war das Scheckgesetz von 1908, das die Einführung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs darstellte. Ob eine vollständig bargeldlose Gesellschaft notwendig oder erwünscht ist, lässt sich von diesem Standpunkt nicht sagen, da die Interessen der Wirtschaft nicht unbedingt dieselben sind, wie die der Verbraucher. Hier gibt es aktuell sogar ziemlich gegensätzliche Standpunkte. Aus meiner Sicht stellt aktuell ein paralleles Bestehen von Buch- und Bargeld kein Problem dar. Das kann in 100 Jahren natürlich schon anders aussehen.

  • Die Frage, was Geld eigentlich ist, beschäftigt die Ökonomen seit Jahrzehnten, ohne dass eine Klärung herbeigeführt werden konnte. Heute bezahlen wir im Internet mit unseren Daten – müssen wir den Geld- bzw. Währungsbegriff womöglich überdenken?

Eines der zentralen Währungskriterien hatten Sie schon selbst genannt: Akzeptanz. Diese kann entweder spontan aus bestimmten Situationen heraus entstehen, wie das bei Zigaretten auf dem deutschen Schwarzmarkt nach 1945 der Fall gewesen ist. Oder die Akzeptanz wird institutionell hergestellt, etwa durch die Notenbank. Die Geschichte hat außerdem gelehrt, dass Akzeptanz in keiner dieser beiden Fälle eine Selbstverständlichkeit ist. Im Gegenteil: Es gibt viele Beispiele, bei denen Notenbanken an der Bevölkerung vorbei Geld gedruckt hat, z.B. bei Hyperinflationen. In diesem Fall griff die Bevölkerung auf Ersatzwährungen zurück: Der Euro, der Schweizer Franke, der US Dollar oder Gold wird immer gern als Substitut genommen. Eine andere wichtige Frage ist die der Golddeckung. Bis zum ersten Weltkrieg schien eine Golddeckung für eine stabile Währung unerlässlich. Diesen Gedanken hat man spätestens mit der Aufgabe des Bretton-Woods-System Anfang der Siebziger Jahre zu Grabe getragen. Zuletzt scheiterte 2014 eine Volksabstimmung in der Schweiz, die den Franken zu einer Golddeckung verhelfen wollte. Heute gelten Währungen durch die Volkswirtschaft gedeckt. Der Wert bestimmt sich also durch das erwirtschaftete BIP. Das eröffnet neue Spielräume – aber auch neue Probleme, wie die Euro-Schuldenkrise gezeigt hat.

  • Der Informations- und Datenfluss hat durch die Verbreitung des Internet wie auch des Smartphones ungeahnte Ausmaße erreicht. Können Zentralbanken und Banken ihrer Rolle als (Finanz-)Intermediäre und Beobachtungsdistanz der Wirtschaft unter diesen Umständen überhaupt noch gerecht werden – fehlt ihnen dazu nicht die Datenbasis? 

Bereits in der Kaiserzeit hat die Reichsbank an Kontroll- und Beobachtungsbedeutung eingebüßt. Die Einflussmöglichkeiten der Notenbanken sind auch heute eher begrenzt, die Handlungsspielräume gerade in der Zinspolitik sind eingeschränkt. Auf der anderen Seite ermöglicht die Blockchain-Technologie neue Möglichkeiten, z.B. für die Unternehmensfinanzierung oder bei der Verhandlung und Überwachung von Verträgen. Hier sehe ich z.B. eine weitaus größere Zukunft für Blockchain als im Bereich Kryptowährungen. Banken werden ihre führende Position nur dann aufrechterhalten können, wenn Sie frühzeitig auf eine leistungsfähige IT setzen.

  • Herr Dr. Wühle, welche weißen Flecken gibt es Ihrer Ansicht sonst noch in der bankhistorischen Forschung – welche Herausforderungen sehen Sie?

Sicher sind Finanzkrisen eine der spannendsten Themen der Bankgeschichte. Selbst ein auf dem ersten Blick so erfolgreicher und prosperierender Zeitraum wie der der Reichsbank-Geschichte von 1875 bis 1914 hat zahlreiche krisenartige Situationen durchlitten: Es gab z.B. eine Goldabflusskrise, eine Silberschwemme, eine Verschlechterung der Wechselqualität, eine Liquiditätskrise und eine Immobilienkrise. Und da sind die politischen Krisen, wie die Marokkokrise von 1905 noch nicht mit eingerechnet, die ebenfalls wirtschaftliche Auswirkungen und Ursachen hatte. Hinzu kommt: Fallende Zinsen wurden ebenso als Krise gesehen wie steigende Zinsen. Und schließlich beginnt die frühe Reichsbankgeschichte mit einer Krise, dem Gründerkrach und endet mit dem ersten Weltkrieg wiederum in einer solchen. Für Bankhistoriker sind sicher die jüngsten Krisen wie z.B. die Subprime-Krise von 2007 oder die griechische Schuldenkrise von 1910 am interessantesten, da sich daraus am ehesten Rückschlüsse für die aktuelle Ordnungspolitik ziehen lassen.

  • Herr Dr. Wühle, besten Dank für das Gespräch!

Das Interview erschien zuerst auf Bankstil

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